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Hallo liebe Leserinnen und Leser!

20171105_090953Lange Zeit habt ihr nun nichts mehr von mir gehört. Tatsächlich hat sich meine Schreibpause in die Länge gezogen und trotz der vielen Ereignisse, die unseren und meinen Alltag in Judäa und Samaria in den letzten Monaten gefüllt haben, habe ich mich entschieden, die Pause einzuhalten und mich anderen Dingen in meinem Leben zu widmen, die für mich nicht weniger wichtig sind – meinem Studium, meinen Examen, jüdischen Feiertagen, Freunden und im Allgemeinen meinem Privatleben.

Da ich Nahostwissenschaften studiere und mich auch weiterhin in diesem Fachgebiet betaetigen möchte, ist bei mir das Arabische zurzeit zur Priorität geworden (ich kann leider noch nicht behaupten, es fließend sprechen zu können, aber mir bleibt keine andere Wahl als nicht aufzugeben). Auch thematisch interessiere ich mich heute mehr für mir noch wenig bekannte Gebiete und Gesellschaften – so beispielsweise für die arabische Bevölkerung meiner Umgebung. Ja, man stelle sich vor. „Die Siedlerin“, das ultimative Friedenshindernis und die Plage der palästinensischen „Urbevölkerung“, setzt sich mit ihren arabischen Nachbarn zusammen und diskutiert über deren Lebensweise und Schwierigkeiten, plaudert übers Judentum und mampft dabei gefüllte Weinblätter. Das hätten sich einige meiner Medienbekannten sicherlich so nicht vorgestellt.

Das Leben indes geht bei uns weiter.

Jeden Tag hört man von Steinangriffen auf israelische Autos auf unseren Strassen.

Familienmitglieder von Terroropfern halten Hungerstreik vor dem Premierministeranwesen in Jerusalem und verlangen mehr Investition in Sicherung von Siedlungen und Strassen, die Vorsitzenden der Regionalverwaltungen ziehen mit (oder umgekehrt) und üben ihrerseits Druck aus. Man spricht in den israelischen Medien von einer versprochenen Summe von 800 Millionen Shekel für den Ausbau von Strassen und Sicherheitsstruktur, diese wurde aber noch nicht bestätigt.

Die letzten „größeren“ Attentate sind zum Glück schon länger her, nichtsdestotrotz gibt es mindestens einmal pro Woche bei den 0404-Nachrichtendienst Berichte über kurz vor einer möglichen Tat gefasste Palästinenser, Waffen inklusive.

Kfar Etzion, der älteste Kibbutz bei uns im Etzion-Gebiet, hat endlich eine Bauerlaubnis bekommen und kann ein neues Viertel errichten.

Mit einem Großaufwand in Höhe von rund 10 Millionen (!) Shekel, einer riesigen Bühne, zahlreichen Kunstdarbietungen und wichtigen Persönlichkeiten wurden 50 Jahre der Neubesiedlung von Gush Etzion gefeiert  – und weckten dabei den Unmut so mancher Einwohner vor Ort, die bemängelten, dass die Veranstaltung nicht für alle offen sei, dass trotz der Feierlichkeiten der Abriss von 17 Häusern auf fraglichem (oder privatem?) Boden bei Elazar anstehe, oder dass 10 Millionen Shekel zu etwas Produktiverem häetten verwendet werden können. Ich fand mich unter den Letzteren.

Netiv Avot, das 17-Häuser starke nicht authorisierte Viertel der Ortschaft Elazar, soll im März 2018 abgerissen werden, und zwar aufgrund der vom Obersten Gerichtshof

 

stattgegebenen Klage seitens eines arabischen Landbesitzers zusammen mit der linken NGO „Peace Now“. Dieser (oder alle beide, da doch „Peace Now“ fuer ihre Hetzjagd auf Siedlungen bekannt ist) beschuldigte die Einwohner, die seit 2001 die Grundstücke im Westen der 1975 errichteten Ortschaft Elazar bebauen, ihm sein privates Land entwendet zu haben. Bei den tatsächlichen Grundstücken, die bei gerichtlicher Untersuchung ermittelt wurden, handelte es sich um zwei Landstreifen, welche teilweise nur wenige Meter in das eine oder andere Gebaeude hineindringen. Trotz der Versuche der Einwohner und sogar des Landbesitzers selbst, eine alternative Lösung wie Kompensation oder Miete zu finden, konnte man sich nicht darauf einigen; der Oberste Gerichtshof (auch keine besonders „siedlerfreundliche“ Einrichtung) legte den Abriss fest. Ob dieser nun stattfindet oder nicht, bleibt abzuwarten. Hinter den Kulissen wird viel verhandelt.


Und was ist derweilen mit mir?

Trotz meiner Abwesenheit hier auf  Blog und bei Facebook, besuchen mich weiterhin Gruppen und Privatpersonen. So durfte ich letzte Woche beispielsweise eine Reisegruppe des Reiseveranstalters und Gründers der Städtepartnerschaft Weinheim-Ramat Gan, Albrecht Löhrbächer, bei mir begrüssen. Heute kam bei mir ein Filmteam von Fokus Jerusalem vorbei. Ich freue mich sehr über diese Aufmerksamkeit und über die Gelegenheit, vom Leben bei uns zu erzählen und es auch zu zeigen. Solange ich hier in Gush Etzion wohne, ist mein Haus immer offen fuer Wissensdurstige.

An dieser Stelle wünsche ich euch allen eine gute und ruhige Woche, und bis zum nächsten Mal!

Eure Chaya

 

Happy in Efrat – immer wieder gut

Das Video existiert zwar schon seit fast zweieinhalb Jahren auf YouTube, aber seine Botschaft bleibt unverändert, und gut gemacht ist es auch. Außerdem gibt es den Außenstehenden einen netten, freundlichen Einblick darin, wie die Bewohner der ‚Großsiedlung‘ Efrat im Gush Etzion ausschauen und was sie so treiben.

Viel Vergnügen beim Angucken und ein schönes Wochenende!

(Originallied: „Happy“ von Pharrell Williams)

Unwetter shalom!

Ein wenig zum Alltäglichen.

Es ist mal wieder Zeit für ein Unwetter gekommen. Wir haben schließlich Winter, und nun lässt er sich so richtig blicken. Ein Sturm fegt übers Land und erreicht jeden Winkel; in den Bergen angekommen, bringt er eine unglaubliche Masse an Niederschlägen mit sich, darunter auch nassen Schnee (der bisher noch nicht liegen geblieben ist), starken Wind und Kälte. In den Hermon-Bergen an der syrischen Grenze ist schon seit Längerem der Schnee gefallen, und nun kommen die Schneewarnungen näher, an die Berge von Samaria, Jerusalem und Judäa. Viele warten hier auf den Schnee aus verschiedenen Gründen; die einen wollen nicht zur Arbeit, die anderen die weiße Pracht genießen; manche (darunter meine Wenigkeit 😉 ) wollen die anstehende Prüfung schwänzen oder gar lange ausschlafen. Denn sobald die Schneewarnung Wirklichkeit wird und die Straßen zugeschneit werden – selbst wenn es nach europäischem Maßstab lächerlich vorkommen wird – werden die Busse nicht mehr fahren und die Straßen gesperrt sein.

Wer sich das anhand des letzten Winters ansehen möchte, darf gerne bei der Galerie vorbeischauen. Winter 2015 war wirklicher Winter, mit schneebedeckten Bäumen und Hügeln, gefrorenen Pfützen und im Schnee versinkenden Weinreben.

Momentan ist alles nass, am Morgen und am Abend bedeckt ein tiefer Nebel die Hügel und verdeckt die Aussicht, die Luft drinnen und draußen ist feucht und unglaublich frisch, der braune, saftige Matsch klebt an den Sohlen, und wer hier keine festen Regenstiefel hat, ist arm dran. Die Katzen jaulen und bitten darum, ins Haus hineingelassen zu werden, und im Haus selbst („Haus“ wäre zuviel gesagt, Wohncontainer natürlich) sitzend höre ich den Wind um die Ecken pfeifen, als würde er den Container mitreißen wollen.

Was meine Behausung angeht, so hält diese das Wetter tapfer aus. Wobei ich, ungleich dem letzten Winter, heute nach der Arbeit leider feststellen musste, dass die undichten Stellen bei der Tür Wasser in den Eingangsbereich hineingelassen haben. Unser lokaler „Hausmeister“, der für die Reparaturen in der Siedlung zuständig ist, hat sich leider schon seit Längerem nicht um diese Dinge gekümmert und so war mein Karavan auf die Wassermassen nicht vorbereitet. „Selbst ist die Siedlerin“, musste es dann wohl oder übel heißen und ich griff als Allererstes zur Silikonpistole, um die Ritzen zu stopfen und schaffte es auch, die Tür einigermaßen nah heranzuziehen und zu fixieren, sodass die undichten Stellen zumindest verkleinert werden konnten. Ob das mit dem Silikon helfen wird, trotz des nassen Holzes, werde ich noch sehen. Momentan heizt die portable Heizung, was das Zeug hält (Klimaanlage besitze ich nicht), und der Strom sollte auch nicht ausfallen. Die Bezirksverwaltung hat, wie im letzten Jahr auch schon, Mails mit Tipps für den Schneefall verschickt, und die habe ich brav befolgt – Notfalllampe, Kerzen, Feuer, Essen für einige Tage, warme Kleidung sind vorrätig. Sollte der Schnee über uns herfallen (hinter dem Fenster kann man die nassen Schneeflocken an die Scheibe klatschen hören), werde ich nicht verloren gehen, denke ich. Als Notfallwärmeheizung habe ich ja immer noch die Katzen. 😉

Die Bezirksverwaltung spart nicht an Mails und berichtet unter Anderem, dass in einigen Teilen im Osten Gush Etzions es geringe Überschwemmungen und offenbar Schaden durch Wasser gegeben haben soll, welche nun behoben werden müssten. Der Osten Gush Etzions liegt auf derselben Berghöhe (bis zu 980 m über dem Meeresspiegel) und Schnee scheint sich dort auch noch nicht blicken zu lassen.

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Die "Menora der Sieben Arten", Kunstwerk von Eliezer Weisshof, ausgestellt in der Knesset (Quelle: Knesset)
Die „Menora der Sieben Arten“, Kunstwerk von Eliezer Weisshof, ausgestellt in der Knesset (Quelle: Knesset)

Ansonsten haben wir heute Abend den Feiertag „Tu BiShwat“das Neujahresfest der Bäume, und der Regen ist symbolisch wunderbar passend. Am Neujahresfest der Bäume sitzen viele Juden zusammen , sprechen Segenssprüche und essen von den sogenannten „sieben Arten“, für welche das Land Israel schon in der Tora ausgezeichnet wurde: Trauben, Datteln, Weizen, Gerste, Granatäpfel, Oliven und Feigen – sowie von anderen Früchten des Landes.

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Sollte der Schnee tatsächlich fallen, wäre das gar nicht so schlecht, überlege ich mir. Denn dann hätte ich endlich Zeit, die Blogbeiträge für euch zu schreiben, welche ich seit Langem schreiben möchte, aber nicht dazu komme!

Schönen Gruß aus den nassen Hügeln!

Chaya

 

Vorübergehend kein Zutritt

In fast ausnahmslos jeder Stadt in Israel werden Araber mit palästinensischem Pass und/oder israelischer Einwohnerkarte beschäftigt. Sei es als Bauarbeiter, Handwerker, Bauunternehmer, Angestellte, Gärtner, Klempner, Müllmänner. Es gibt Arbeiten in vielen Sektoren, die große Abnahme bei den palästinensischen Arabern und auch Arabern mit israelischem Pass finden. Dazu muss man sagen, dass viele dieser Berufe und Beschäftigungen als unbeliebt in der jüdisch-israelischen Bevölkerung gelten. Palästinensisch-arabische Dienstleister – Firmeninhaber, Verkäufer – welche Geschäfte mit Juden aus Israel betreiben, verlangen deutlich geringeres Geld  als ihre israelischen Counterparts. Arabische Arbeiter sind schnell, geübt, verlangen wenig, sind ausdauerfähig. Für viele dieser Menschen ist die Arbeit auf israelischem Territorium (incl.Zone C in Judäa und Samaria) die einzige Einkommensquelle für die Familie. Nicht alle der Arbeiter stammen jedoch aus Orten, die der jüdischen Bevölkerung wohlgesinnt sind, sondern können in allen möglichen arabischen Dörfern und Städten wohnen, die israelische Juden aufgrund von der ihnen dort drohenden Lebensgefahr nicht betreten dürfen – beispielsweise Hevron, Bet Fajjar, Shchem (Nablus), Bet Ummar, Zurif, Jenin.

Aus denselben Orten stammen auch die zahlreichen Funktionäre der verschiedenen Terrorkampfgruppen wie der Hamas, den Al-Quds-Brigaden, der Fatah etc., und ebenso aktive Terroristen und ihre Lehrlinge, welche entweder Stein- und Brandbombenwürfe auf israelische Autos verüben, Soldaten und Polizisten attackieren, Zivilisten in Großstädten niederstechen, niederschießen oder sich selbst in die Luft sprengen.  Alle sie leben auf engstem Raum nebeneinander, sind Teil derselben Gesellschaft, und allzu häufig kreuzen sich ihre Wege – und aus einem simplen Bauarbeiter oder Techniker wird ein mordlustiger Terrorist, wie das neueste Attentat in Jerusalem (13.10.15) anschaulich darlegt.

Nun dient diese Einleitung dazu, um die Reibung zwischen den beiden – einander von nicht besonders bis auf den Tod nicht wohlgesinnten – Bevölkerungsgruppen in Israel im regulären Alltag aufzuzeigen. Das Aufeinandertreffen sowie die das Niveau der Feindseligkeiten zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung sind in Judäa und Samaria noch erheblich größer als im offiziellen Staatsgebiet Israels. Die auf den Erfahrungen vor allem der letzten 30 Jahre basierenden Befürchtungen der Juden  vor den unvorhersehbaren Terrorattacken lokaler Araber, welche bei Juden arbeiten, führen dazu, dass viele gegen eine Beschäftigung von Arabern in jüdischer Umgebung protestieren. Was nur in wenigen Fällen anschlägt, da das gesamte Bauunternehmen, die Gastronomie und die Instandhaltung der Infrastruktur der Siedlungen auf den arabischen Arbeitern basiert. Auch glauben viele daran, dass das Aufrechterhalten der wirtschaftlichen Beziehungen und einer ökonomischen Balance stabile nachbarschaftliche Beziehungen fördern kann, was auch sich auch an einigen Beispielen erkenntlich zeigt, so die Kooperation zwischen den Bewohnern der Stadt Beitar Illit und der Stadt Hussan, welche direkt gegenüber liegt, und ebenso zwischen der Siedlung Efrat und den umliegenden arabischen Dörfern.

Hier liegt Efrat
Hier liegt Efrat

Jetzt sind aber Krisenzeiten angekommen. Tagtäglich finden in Jerusalem Attentate statt, und auch im Rest des Landes, durchgeführt von israelischen oder palästinensischen Arabern. Die Straßen innerhalb Judäas und Samarias werden durch Steine und Brandbomben und in einigen Fällen auch Schießereien und Entführungsversuche unsicher gemacht. Aufgrund der aufgeheizten Situation und der Besorgnis um die Sicherheit der Bevölkerung entschlossen sich Bezirksvorsitzende in Judäa und Samaria –

Hier liegt Beitar Illit
Hier liegt Beitar Illit

namentlich in Gush Etzion, in der Region der Südhevronberge und in einigen Regionen von Samaria, für arabische Arbeiter vorübergehend keinen Zutritt zu gewähren. Das Verbot gilt seit etwa zwei Tagen. Auch die ultraorthodoxen Städte  Beitar und Modi’in Illit haben beschlossen, zurzeit keine arabischen Arbeiter mehr hineinzulassen, obwohl sich diese Städte nicht als Teile der Siedlerbewegung zählen. Nach einigen Attentaten auf ultraorthodoxe Juden jedoch wurde diese Entscheidung dennoch getroffen.

Den Arbeitern, welche am Morgen des Verbots zur Arbeit gekommen waren, wurde ein Flyer in Hebräisch und Arabisch ausgehändigt, auf dem u.a. geschrieben stand:

Sehr geehrter Arbeiter/Unternehmer,

wir sind bestürzt über den vorübergehenden Schaden, der eurem  Einkommen zugefügt wird. Wir danken euch für Ihre treue Arbeit in unserer Siedlung. In der letzten Zeit werden wir, eure jüdischen Nachbarn…, welche mit euch auf denselben Straßen fahren, von Terroristen, die aus Ihren Dörfern stammen, angegriffen. Sie bewerfen uns mit Steinen und Brandbomben. Als Nachbarn, welche hier schon 40 Jahre leben und so Gott will noch viele Jahre leben werden, ist uns klar, dass dies nicht eure Art und Weise ist. Als Menschen, die ihr Einkommen von uns beziehen und uns kennen, wissen wir, dass ihr dies verurteilt. WIr fordern daher von euch, dass ihr von den Vorstehern eurer Dörfer verlangt, dieses ernstzunehmende Phänomen zu beenden, denn so können wir nicht weiterleben.“

(Quelle des Textes: 0404.co.il, Flyer der Gemeinschaften der Südhevronberge)

Heute, so berichtete mir der Bezirksvorsitzende von Gush Etzion, Davidi Perl, soll eine Sitzung stattfinden, in welcher die Sicherheitslage ermittelt und entschieden werden soll, das Verbot zu belassen oder aufzuheben.

Was noch einen unmittelbaren Treffpunkt zwischen Juden und Arabern betrifft – die Großsupermarktkette Rami Levy, in welcher sowohl die einen als auch die einen angestellt sind – , so ließ der Besitzer Rami Levy in einem Interview neulich verlauten, er würde als Sicherheitsmaßnahme die Bewachung an den Eingängen verdoppeln und Messer aus dem Sortiment entfernen. Allerdings weigerte er sich, die arabischen Angestellten zu vermindern und durch jüdische zu ersetzen – auch nicht an Reibungsorten wie Gush Etzion.

 

„Das irrelevante Kopftuch“ Na’ama Henkin sel.A.

10421622_401196053387094_3221754775169969373_nDieser Text wurde von Na’ama Henkin, der ermordeten jungen Frau und Mutter aus Neria, vor etwa drei Jahren auf der israelischen Blogplattform „Point of View“ veröffentlicht. Na’ama Henkin bloggte dort zusammen mit anderen jungen Frauen aus Judäa und Samaria auf Englisch über verschiedene Aspekte ihres Lebens. In diesem Text versucht sie, anhand eigener Erfahrung als erfolgreiche religiöse Grafikerin aus einer Siedlung die Diskrepanz der  gegenseitigen Wahrnehmungen innerhalb der israelischen Gesellschaft, zwischen „Religiösen“, „Siedlern“, „Tel Avivern“ und „Sekulären“ darzustellen. Vor drei Jahren habe ich diesen Text nicht gekannt, und heute gelangt er an die Oberfläche durch den grausamen Mord an Na’ama und ihrem Mann Eytam, und zeigt auf einige schmerzvolle Aspekte der Selbstwahrnehmunng der israelischen Gesellschaft. Übersetzt von mir.


Na'ama Henkin hy"d

Na’ama Henkin hy“d

Das irrelevante Kopftuch*

Hier bin ich wieder, bereite mich für ein Meeting in Tel Aviv vor, öffne zum hundertsten Mal meinen Schrank, um mir herauszusuchen, was ich anziehen soll.  Was wird bescheiden, aber modisch aussehen, elegant, aber nicht zu sehr? Trotz meiner Bestrebungen weiß ich, dass wenn ich im Herzen Tel Avivs aus dem Auto steigen werde, ich anders aussehen und mich anders fühlen werde. Ich werde „eine von denen“ sein. Mein Designer-Kopftuch, das mir viele Komplimente von meinen Freundinnen in meiner Gemeinschaft einbringen wird, dasselbe Kopftuch ist so üblich und relevant in Tel Aviv wie ein Hijab – nämlich absolut irrelevant.

Nachdem ich es geschafft habe, meinen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden, betrete ich das das Gebäude, in dem mein Meeting stattfindet (natürlich bin ich 10 Minuten zu spät, denn der Tel Aviver Verkehr scheint mich immer wieder von Neuem zu überraschen). Ein kurzer Stopp auf der Toilette gibt mir noch mal die Chance, mein Aussehen neu zu ordnen, mein Make-up zu korrigieren und mein Kopftuch neu festzubinden. Wen versuche ich hier eigentlich zum Narren zu halten?, denke ich mir, ein religiöses Mädel wird immer ein solches bleiben.

Während ich mir meinen Weg zum Treffen bahne, überlege ich vor mich hin: werden sie überrascht sein, zu sehen, dass ich gläubig bin? Wird die Person, die meine Arbeit bestellt hat, zu meiner professionellen Beschreibung hinzufügen: ‚Wir werden mit Na’ama zusammenarbeiten, sie macht Interface-Design. Ja, die eine Religiöse mit dem Kopftuch, aber sie ist eigentlich ganz cool“… Ich war niemals dabei, wenn ein solcher Satz gesagt wurde, aber ich fühle ihn immer, wenn ich in den Raum hineinkomme. Auch wenn ich mit einem Lächeln begrüßt werde, versuchen die Männer immer, diesen peinlichen Moment, die Hände zum Händeschütteln auszustrecken in der Erwartung, meine Hand zu schütteln, zu vermeiden. Und die Sekretärin bestätigt mir lächelnd, der Kaffee sei koscher.

Dann kommt der Smalltalk. Jemand wird fragen: „So, woher sagten Sie, dass Sie kommen? Jerusalem?“ Und ich werde rot anlaufen und sagen, „nein, ich komme aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Modi’in.“ „Oh“, werden sie sagen und mit den Köpfen nicken, „wir haben von dieser Stadt gehört. Ein netter Ort. Wir sollten wirklich einmal dorthin mit unseren Kindern fahren, dort müsste ein schöner Park sein.“

Hier liegt Neria
Hier liegt Neria

 Eines Tages  – so verspreche ich dem verstörten Verlangen nach Gerechtigkeit in meinem Inneren – , vielleicht, wenn ich erwachsen sein werde, werde ich den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Ich lebe in Neria, einer Gemeinschaft in der Binyamin-Region. Ja, es liegt auf der anderen Seite der Grünen Linie. Die Medien mögen es eine „Siedlung“ nennen, aber für uns ist es einfach „Zuhause“. Kommt vorbei, wenn ihr die Gelegenheit dazu findet, es ist wirklich wunderschön dort. 


*Anmerkung: Das Haar zu bedecken, ist religionsgesetzliche Pflicht für verheiratete jüdische Frauen. Dabei gibt es verschiedene Bräuche, wie man das Haar zu bedecken hat – in welchem Maße, oder auch womit. Heute entscheiden sich sehr viele religiöse jüdische Frauen für Kopftücher. Andere wählen dafür eine Echthaar-Perücke. 

 

Realitäten und Reaktionen

…Es ist schon gruselig, muss ich zugeben.

Vier Jahre bin ich in Israel, und erst ein Jahr lang erlebe ich die Realität der „besetzen Gebiete“ hautnah, und habe einen solch radikalen Wandel meines Lebensalltags mitmachen müssen – einen solchen hätte ich mir nicht erträumen lassen. Für die meisten Israelis ist „Intifada“ kein neuer Begriff, und auch Terrorattacken sind Teil ihrer Geschichte. Das Land und seine Leute haben in den letzten 67 Jahren außergewöhnlich viele Extremsituationen und reale Gefahren durchgehen müssen. Ich allerdings komme aus einer Welt mit einem relativ „heilen“ Selbstverständnis, aus einem Deutschland und Europa, welches die Bedrohung des islamisch motivierten Terrors noch nicht gekannt hatte. Zum Beispiel hätte ich mir niemals ausmalen können, in einem Land zu leben, in welchem die Polizei oder der Notfalldienst per Internet die Einwohner über Abwehrmethoden von Messerattacken informieren. Über Raketenangriffe. Über Brandbombenattentate. In einem Land, in dem ein  Bürgermeister die Mitbürger auffordert, Waffen bei sich zu tragen. Wo Menschen Steinblöcke auf vorbeifahrende Autos werfen. Und wo eine Wellblechhütte auf einem Hügel einen internationalen Skandal hervorruft, jedoch der Ruf nach totaler Vernichtung eines Volkes als der Schrei von Unterdrückten übersetzt wird.

Und nun, da ich hier lebe, bleibt mir nichts anderes übrig, als das oben Aufgezählte und noch weitere „irre“ Elemente des Alltags in meinem Leben zu akzeptieren, ohne sich zu wundern, übermäßig zu beschweren oder Alarm zu schlagen. Ich dachte, Raketenbeschuss auf Städte sei etwas Unfassbares? Es gibt Terrortunnel. Tunnel seien inakzeptabel? Es kann auch Krieg geben. Krieg ist ein Notstand? Und was sagt man zu Messerstechereien auf der Straße? Entsetzlich? Es gibt auch Schüsse aus vorbeifahrenden Autos. Sprachlos? Man kann jemanden auch an der Halterstelle über den Haufen fahren und dazu Videoanleitungen zum besseren Gelingen im Internet verbreiten.

Ich habe in all den vier Jahren noch kein einziges Mal den Gedanken gehabt, aufgrund der zahlreichen Bedrohungen meine Koffer zu packen und zurück nach Deutschland zu kehren. Stattdessen lerne ich, mich in die Lebenswirklichkeit der Menschen hier einzufügen nd beobachte  die Art und Weise, wie meine Mitbürger und meine Umgebung mit den Situationen umgehen.

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Mädchen mit Torarolle bei der Demo in Jerusalem. Foto: Efrat Kislev
Mädchen mit Torarolle bei der Demo in Jerusalem. Foto: Efrat Kislev

Trotz oder gerade wegen der großen Enttäuschung, welche die nationalreligiös geprägte Gesellschaft gegenüber der von ihr gewählten Regierung fühlt, gibt es politischen Aktivismus. Nicht nur seitens der offiziellen Vertreter der jeweiligen Interessen, sondern bei den regulären Bürgern. So erschienen zu einer in der israelischen Presse als „rechte“ Demonstration katalogisierten Veranstaltung am 05.10.15 vor der Residenz des Premierministers in Jerusalem (Paris Square) mehrere Tausend Israelis, um gegen die Terrorwelle und die Bedrohungen zu protestieren. Die Demo fiel auf den Abschluss des „Tora-Freudenfestes“. Aus allen Ecken der „Siedlerwelt“, von Tal Menashe im Norden Samarias bis Yatir an der „Grünen Linie“ im Süden, organisierte man Busse mit Teilnehmerwilligen. Es kamen meist junge Teilnehmer, Familien, Kinder aus Jugendbewegungen, Schulabgänger und auch ältere Menschen. Sie hörten Rednern aus der politischen Sphäre zu (darunter auch zwei Ministern aus der Regierungspartei des Likud), hörten den Aufruf zur Tatkraft von Terroropfer Adva Bitton, protestierten, tanzten, sangen. Trotz des großen Aufgebots, der zentralen Lage und des Timings berichteten führende deutsche Medien über die Demonstration nicht.

Protest auf der Autobahn 398 Richtung Teko'a. Foto: Ulrich J.Becker
Protest auf der Autobahn 398 Richtung Teko’a. Foto: Ulrich J.Becker

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Spontane Zusammenkünfte, wie der Protest gegen Steinwürfe auf die Autobahn bei Teko’a am 07.10.15, nachdem eine jüdische Fahrerin von Arabern am selben Tag beinahe gelyncht worden ist (siehe Facebook-Meldung), fanden und finden weiterhin überall in den Gebieten statt. Vor allem kursieren Flyer, Aufrufe zu Protestevents, Bitten um Gebete für die Verletzten der täglichen Attentate über Whatsapp. Whatsapp muss das beliebteste Kommunikationsmedium in Israel sein. Interessant wäre zu wissen, wie stark seine Popularität infolge der momentanen Situation zugenommen hat – und wie viele Chats von den Shin Bet-Agenten tatsächlich abgefangen werden, um „unliebsame“ Zusammenkünfte zu vereiteln  und Aktivisten auszuspionieren.

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Schon seit Wochen sitzt Yossi Dagan im Zelt vor der Residenz des Premierministers Netanyahu im Zentrum Jerusalems und protestiert durch seine Anwesenheit gegen den wachsenden Terror und die seines  Erachtens mangelhafte Reaktion darauf innerhalb der Region, welche er verwaltet. Yossi ist der stellvertretende Vorsitzende des Judäa- und Samaria-Rates (YESHA), und er ist bekannt als einer, dem die Angelegenheiten seiner Mitbürger am Herzen liegen. Zusammen mit Yossi haben sich dorthin auch mehrere andere Bezirksvorsitzende begeben, so unser Vorsitzender Davidi Perl aus Gush Etzion, der sein Büro „vorübergehend“ vor das

Yossi Dagan auf der Demo am 05.10.15
Yossi Dagan auf der Demo am 05.10.15

Haus des Premierministers verlegt hat. Seine Kollegen und er haben eine lange Liste von Forderungen an den Premierminister. Hin und wieder berichten sie von Treffen mit diesem, er scheint bereit sein, sie anzuhören, aber von Einigungen hört man nicht. Die Forderungen betreffen verschiedene Sicherheitsaspekte – vor allem die notwendigen finanziellen Mittel für Maßnahmen, die die Einwohnersicherheit in Judäa und Samaria stärken sollen. Andere wirken globaler – ein Verlangen nach hartem Durchgreifen gegenüber Terroristen und ihrer sozialen Umgebung. Und dann noch die lauteste Forderung von allen, die auch die letzte Demo angeführt hat – „Bauen gegen Terror“. „Die gebührende zionistische Antwort gegenüber den Morden ist das Bauen und Niederlassen im Land Israel“ ist seit längerer Zeit ein Standart-Leitsatz der Siedlerbewegung. Die einen sagen, eine effektive Sicherung und Vergrößerung der jüdischen Präsenz vor Ort, gerade im Hinblick auf die Übergriffe vor Ort, würde an die Attentäter und ihre Anstifter ein Signal von Stärke senden – ohne sich dabei im Nahkampf oder durch militärische Maßnahmen die „Finger schmutzig zu machen“.  Andere aus derselben Bewegung sehen dies als politischen Missbrauch an, sehen die Notwendigkeit der Sicherheit nicht mit dem Bau von Häusern erfüllt, und weigern sich, den Aufrufen der Bezirksräte zu folgen.

Wo liegt die Autobahn 398?
Wo liegt die Autobahn 398?

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So wie Natan (Name geändert) aus Teko’a. Ein Mann mit Kontakten, Draht zu den Einwohnern und dem Interesse daran, die Autobahn 398 zwischen Jerusalem und Teko’a für Juden sicher zu machen. Nachdem neulich erneut eine Fahrerin von einem Mob auf der Straße angegriffen und beinahe entführt worden worden war, erstellte er eine Liste aus Freiwilligen mit Waffenschein, die von nun an zusätzlich zur Armee und Polizei auf der Straße patroullieren würden, um im richtigen Moment zur Stelle zu sein, sollte die Armee vor Ort nicht genügend Präsenz zeigen.

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Man macht auch Witze. Bildüberschrift: "Ich gehe grad' mal den Müll runterbringen", Quelle: Facebook
Man macht auch Witze. Bildüberschrift: „Ich gehe grad‘ mal den Müll runterbringen“, Quelle: Facebook

Derweilen versendet unsere Regionalverwaltung im Namen von Davidi Perl erneut warnende Emails, diesmal mit direkten Anweisungen, wie man sich im Falle eines Angriffs verhalten sollte. Aufgelistet werden Tipps je nach Art des Angriffs.  Schwierig für mich, nachzuvollziehen oder zu akzeptieren, was solche Anweisungen tatsächlich bedeuten – dass wir uns in einer Kampfzone befinden, dass kriegsähnliche Zustände herrschen, und das im ganzen Land und nicht etwa an den Grenzen allein. Und das nennt sich heute Alltag. Das soll man vereinen mit einem Gang in den Supermarkt, einem Ausflug in die Natur, der Fahrt zur Arbeit oder zur Uni. Wie schwer muss es erst für einen Außenstehenden sein, nachzuvollziehen, was hier geschieht?…

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Sportverein "Israeli Combat Experience" in Gush Etzion
Sportverein „Israeli Combat Experience“ in Gush Etzion

Ein Bekannter von mir bietet seit Neuestem kostenlose Selbstverteidigungskurse an. Das Angebot werde ich mir anschauen, Und auch das mit dem Waffenschein sollte man sich vielleicht überlegen. Denn in den letzten Tagen ist die israelische Presse voll von Berichten von Zivilisten, welche durch eine Waffe, die sie bei sich trugen, das Leben von anderen retten konnten. Bevor Sicherheitskräfte sich einmischen konnten.

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Dem gegenüber stehen auch wütende Israelis aus den Siedlungen und auch aus anderen Städten, die ihre Wut über das Geschehen in Taten verwandeln; heute (09.10) bewarfen Siedler laut YNET die Autobahn nach Shchem (Nablus) in Samaria mit Steinblöcken. Dabei wurden arabische Fahrer verletzt und Autoscheiben zerschmettert. Ebenso wurde die Einfahrt nach Shchem blockiert. In Netanya wurden drei Araber von Einwohnern angegriffen und einer davon verprügelt; laut YNET soll einer von ihnen „Allahu Akbar“ gerufen haben (der übliche Ruf vor Terrorangriffen), der Kontext ist allerdings unklar. In Dimona, einer Stadt, in welcher neben Juden auch Beduinen mit israelischem Pass leben, verletzte ein jüdischer Mann mit einem Messer vier Beduinen, zwei davon offenbar schwer. Die Familie des einen weigerte sich, die Tat ausführlich zu kommentieren, um die Atmosphäre „nicht aufzuheizen“(Zitat).


Was kann ich sagen? Das Fazit ist noch lange nicht gesprochen, für Bilanzen ist es noch zu früh. Welche Forderungen der „Siedlerbewegung“ werden erfüllt werden, welche davon haben keinen Anteil an der Entscheidung der Regierung zu ihrer Verhaltensweise gegenüber dem Terror? Ich weiß es nicht und kann leider keine Prognosen anstellen. Heutzutage kann ich nicht einmal sagen, dass das „Bau-Credo“ der Siedlerbewegung für Judäa und Samaria einen Fortschritt für diese einbringt, wenn es keine offizielle Verstaatlichung von ganz Judäa und Samaria mit sich führt.  Eine Verstaatlichung – Annexion – Eingliederung dieser Regionen würde zumindest schon einmal die Hoffnung der Gegenseite und ihrer Wortführer ersticken, die jüdische Bevölkerung von diesem Fleck Land vertreiben und das Land unter sich aufteilen zu können. Eine Hoffnung, die jeder mit sich führt, der israelische Juden angreift und terrorisiert. Diese Hoffnung wird genährt von der Propaganda der eigenen arabischen Führungskräfte, welche sie seit 1921 und bis heute führen. Sie wird aber auch genährt von der israelischen Gesellschaft, welches nicht eindeutig bereit ist, zu sagen, was sie als ihr Land erachtet und was nicht. Das Ergebnis dieses Mangels an Entschlossenheit, Unklarheit über die eigenen Ziele und Wünsche ist der fast 50-jährige Status Quo der Militärherrschaft in Judäa und Samaria – und alles, was daraus folgt – , unter anderem jeder der bisherigen Gewaltaufstände der Araber in Israel. Vieles hat sich die israelische Politik und Gesellschaft selbst zuzuschreiben – allerdings in anderer Weise, als es heute in der Medienwelt dargestellt wird.

Die Frage ist, gerade in solchen brenzligen Tagen – werden wir die Gelegenheiten, die sich ergeben werden, nutzen, und wenn ja – wie?

„Mein Baby schrie“ – Bericht

Unsere Nachrichten sind in den letzten Tagen erstaunlicherweise voll. Voll von Meldungen ueber Gewaltakte in Judäa und Samaria. Von Steinwürfen, Brandbomben, Schüssen hier und dort, auch in Jerusalem und auch in Lod – einer Stadt mit gemischter arabsich-jüdischer Bevölkerung, weit weg von jeder gruenen oder sonstigen Linie.
Mit einem Mal sind Berichte über arabischen Terror gegenüber Juden „populär“ geworden. Dafür hat es vier grausige Morde innerhalb der letzten 2 Tage gebraucht. Was sonst regelmäßig übergangen und interessenlos zur Behandlung an die Sicherheitskräfte übergeben wird, bekommt auf einmal Namen. Wohlbemerkt, in der israelischen Presse, nicht in der internationalen.

Ich möchte mit euch einen Bericht von Erica Chernovsky teilen.  Sie wurde vor einigen Tagen von Steinewerfern in Gush Etzion angegriffen, und hat das Erlebnis niedergeschrieben. Auf Englisch.

http://blogs.timesofisrael.com/suddenly-i-heard-my-children-scream/

NEWS: Jüdisches Elternpaar von Terroristen im Auto hingerichtet

Mit Entsetzen, in tiefster Trauer und Wut berichte ich über diese Tat.

Seht in ihre Gesichter, und seht nicht weg. Na'ama und Eytam Henkin hy"d (Quelle: INN)
Seht in ihre Gesichter, und seht nicht weg. Na’ama und Eytam Henkin hy“d
(Quelle: INN)

Gestern abend (01.10.15) fuhren das Elternpaar Na’ama und Rabbiner Eytam Henkin, in ihren 30ern aus der Siedlung Neria, mit ihren vier Kindern auf der Autobahn 555 in Samaria, zwischen den Ortschaften Elon More

Karte zum Attentatsort
Karte zum Attentatsort

und Itamar, im Umkreis der Stadt Shchem (Nablus). Die Autobahn führt am arabischen Ort Bayt Furik vorbei. In der Nähe von Bayt Furik wurden aus einem vorbeifahrenden Auto auf das Fahrzeug von Familie Henkin mehrere Schüsse abgefeuert. Beide Eltern wurden schwer verletzt. Ihr Auto hielt auf der Straße an. Vorbeifahrende israelische Fahrer erkannten, dass es sich um eine Terrorattacke handelte, und riefen Einsatzkräfte. Als erste medizinische Versorgung ankam, bemühten sie sich, Na’ama und Eytam wiederzubeleben, doch mussten in kurzer Zeit ihren Tod feststellen. Die vier Kinder – Matan Hillel, 9, Nitzan Yitzhak, 7, Netta Eliezer, 4 und Baby Itamar (8 Monate) – waren direkte Zeugen der Ermordung ihrer Eltern, wurden leicht verletzt, aus dem Auto evakuiert und zur Erstversorgung nach Itamar gebracht.

Hier liegt Neria/Talmon B
Hier liegt Neria/Talmon B

Die Armee gelangte am Ort des Geschehens an und eröffnete eine breite Fahndung nach den Tätern. Noch ist unbekannt, aus welchem Ort der Täter stammen könnte. An die vier zusätzlichen Einsatztruppen, die zur Region beordert wurden, bekamen den Befehl, die umliegenden Dörfer einzukesseln und eine verstärkte Durchsuchung und Fahndung einzuleiten.

Quelle: INN
Quelle: INN

Die Nachricht verbreitete sich über soziale Netze, Radio und Schnellnachrichtendienste wie 0404 über das ganze Land. Einwohner in Judäa und Samaria organisierten Spontanzusammenkünfte an öffentlichen Kreuzungen mit Israelflaggen.

Auf dem Jerusalemer Friedhof. Quelle: INN
Auf dem Jerusalemer Friedhof. Quelle: INN

Heute morgen (02.10.15) um 11 Uhr wurde, entsprechend dem jüdischen Gesetz, das Ehepaar Henkin auf dem „Har Hamenuchot“-Friedhof in Jerusalem beigesetzt. Zum Begräbnis waren tausende Anwesende erschienen, darunter viele, welche das Paar nicht persönlich gekannt hatten. Israels Präsident Ruven Rivlin erschien ebenso zur Beerdigung. Er sprach über die Persönlichkeiten von Na’ama und Eytam, die er viel zu späte habe kennenlernen können. Er zitierte einen Brief, den die Ermordete früher im Jahr an ihn nach dem Mord an Dani Gonen geschickt hatte, und dass er ihr geantwortet habe. Zudem stärkte Rivlin, der sich nach dem Brandanschlag im arabischen Dorf Duma und noch vor dem Ermittlungsergebnissen äußerte „Mein Volk wählte den Weg des Terrors“, in seiner Ansprache die Siedlerbewegung und nannte die jüdischen

Präsident Ruven Rivlin
Präsident Ruven Rivlin

Bewohner von Judäa und Samaria „die Ersten an der vordersten Front“ im Kampf gegen den Terrorismus, die den „Preis zahlen, der zu schwer zum Tragen “ sei: „Der Terror folgt uns seit den Tagen von 1929 bis heute. Wir haben nie aufgrund des Terrors gebaut und werden nicht für einen Moment aufhören, wegen des Terrors zu bauen.“

 

Verwandte hielten Ansprachen auf die Ermordeten. Die Großeltern, welche den Zusammenhalt und die offenkundige gegenseitige Liebe des Ehepaares ins besondere Licht stellten, versprachen, die Kinder gemeinsam aufzuziehen. Der älteste Sohn der Familie Henkin, Matan Hillel (9 Jahre), sprach das Kaddisch-Gebet, welches für Verstorbene gesprochen wird. Er war Augenzeuge des Mordes an seinen Eltern.

Während der Beisetzung von Na’ama und Eytam hielten Bewohner von Judäa und Samaria Protestkundgebungen in der gesamten Region, versammelten sich auf Kreuzungen, wehten Israelflaggen und sperrten teilweise Straßen ab.

Rabbiner Eytam lehrte an einem Frauenseminar in Jerusalem, und hatte sein erstes Buch zu jüdischer Denk-und Lebensweise schon mit 20 veröffentlicht. Er war ein vielversprechender Pädagoge und Rabbiner. Na’ama arbeitete als erfolgreiche Grafikerin und schrieb einen Blog bei PointOfView.org.il, einer Blogplattform für Frauen aus Judäa und Samaria in Englisch.

An der Gush Etzion-Kreuzung. Foto: Nadia Matar
An der Gush Etzion-Kreuzung. Foto: Nadia Matar
An der Gush Etzion-Kreuzung. Foto: Nadia Matar
An der Gush Etzion-Kreuzung. Foto: Nadia Matar
An der Gush Etzion-Kreuzung. Foto: Nadia Matar
An der Gush Etzion-Kreuzung. Foto: Nadia Matar
In Kochav Hashachar, Samaria. Foto:INN
In Kochav Hashachar, Samaria. Foto:INN
Bei Bet Haggai. Foto: M.Dana-Picard
Bei Bet Haggai. Foto: M.Dana-Picard

Die Regionalverwaltung warnt…

Die Nachrichten (zumindest in Israel) berichten schon über eine Woche von vermehrten Zusammenstößen von gewalttätigen arabischen Randalierern in Jerusalem mit Sicherheitskräften und ziviler Bevölkerung – auf den Verkehrsstraßen, in der Altstadt, auf dem Tempelberg. Der Tod von Alexander Levlowitz am 13.09.15 (Neujahrsabend) konnte der Bevölkerung nicht entgehen. Seit diesem sind in und um die Hauptstadt herum noch viele Steine und Brandbombencocktails durch die Luft gesaust. Sprich, dass die Lage in Jerusalem angespannter ist, als sie vor Kurzem noch gewesen ist, sollte eindeutig sein.

Ab und zu tauchen Meldungen oder zitierte Aussagen hochrangiger Sicherheitsvertreter auf, welche auf eine „Aufheizung der Stimmung“ auch in den Gebieten von Judäa und Samaria hinweisen. Zwar kann man dort keinen Tag lang von einer „Entspannung“ sprechen, dennoch scheint die Gewaltwelle auch um uns keinen Umweg zu machen. Selten tauchen in den traditionellen israelischen Medien Meldungen zu Unruhen und Attentatsversuchen  in Judäa und Samaria auf – seltener, als diese tatsächlich stattfinden. Nicht jeder Angriff auf einen Kontrollposten, auf einen Soldaten, nicht jeder Stein- oder Brandbombenwurf auf ein vorbeifahrendes Zivilauto werden dokumentliert. Internetplattformen und sog.“neue Medien“ wie 0404.co.il, Facebook, aber auch die lokal vertretenen Kanäle mit eher religiös oder konservativ gerichteten Zielgruppe, so die Seite INN.co.il, informieren mal mehr, mal weniger über die Vorkommnisse.

Aus meiner diesjährigen Arbeit beim Sicherheits- und Überwachungszentrum des Regionalbezirkes Efrat weiß ich um die Häufigkeit der „gewohnten“ Vorfälle  – Steinwürfe, Brandbomben, verdächtige Personen, und die dadurch verursachten Einsätze von Sicherheitskräften. Es ist für diese kaum möglich, zur Echtzeit die Täter, wenn über diese von einem Zivilisten berichtet wird, zu ergreifen und festzunehmen. Die Meldung, die am Meisten per Funk übermittelt wird nach einem erneuten Einsatz an Ort und Stelle eines Steinwurfes, eines gezündelten Brandes u.ä. – „keine Befunde“. Erst bei speziellen Nachtdurchsuchungen oder Recherche durch armeeinterne Nachrichtendienste können manche der Täter aufgefunden werden, aber auch da ist die Effizienz nicht immer hoch, da die Indizien fehlen, und die Familien bzw. die Bewohner der arabischen Siedlungen die Betreffenden nicht freiwillig herausgeben.  Zurück bleiben dann zerschmetterte Fensterscheiben, abgefackelte Wälder, angebrannte Autos und ein ständiges Gefühl, mit einer anderen Realität wäre so bald nicht zu rechnen.

Wie dem auch sei. Am Freitagmorgen schickte der Vorsitzende Davidi Perl im Namen der Regionalverwaltung an die Bewohner von Gush Etzion eine Mail mit dem folgenden Inhalt:

„In den letzten Wochen erleben wir einen fühlbaren Anstieg von Terrorakten in Gush Etzion. Steinwürfe, Brandbomben und Attentatsversuche ereignen sich tagtäglich. Viele Terrorhandlungen, die nur durch ein Wunder bisher keine Opfer brachten.

Die Vorkommnisse, die sich bei uns ereignen, sind Teil abgestimmter und geplanter Aktionen, welche dazu dienen, Schaden anzurichten und die Regionen von Judäa, Samaria und Jerusalem aufzuheizen. Das soll natürlich keinen Trost darstellen, und die Regionalverwaltung ist unermüdlich aktiv in ihrer Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbeauftragten, um eine Truppenverstärkung und einen kompromisslosen Kampf gegen die Terroristen zu erwirken. Ein jeder von Ihnen ist in diesen Tagen gefordert, doppelte Vorsicht walten zu lassen und wachsam zu sein. Es ist sehr wichtig, dass diejenigen der Einwohner, die ihren Wagen noch nicht geschützt haben, dies umgehend tun. Es kostet kein Geld und rettet Leben!

Auf das wir mit Gottes Willen bald Frieden und Gutes erleben werden. „

Etwas von mir: In meinem Alltag, der sich momentan rund um Alon Shvut dreht, erlebe ich momentan keine Unruhen oder Gewalt. Mir geht es gut, und das oben Geschriebene sollte dennoch niemanden stören, hierher zu kommen, insbesondere, wenn jetzt die Sukkot-Feiertage anfangen und ganz Israel zum Wandern und Picknicken aufbricht. In allen Siedlungen hört man bis spät in die Nacht ein Hämmern und Herumwerkeln – die Männer und Jungen (zumeist) arbeiten an den „Laubhütten“ für das Laubhütten (Sukkot-)-Fest, welches am Sonntagabend beginnen wird. Die Bilder werde ich mit euch noch teilen.

Wünsche allen eine gute Zeit und viel Ruhe.

Chaya

Das andere Israel

„Nebel umhüllt die Berge. Mein Bus schlängelt sich die Straße hinauf. Ich wundere mich, wieso die Scheiben nicht gesichert sind. Es ist ein einfacher Linienbus auf seinem Weg durch Dörfer, Felder und Berge, übersät mit Steinen und Büschen, soweit das Auge reicht.  Er schaukelt auf und ab. Hier und da fährt er entlang einer grauen Mauer, aber sie wechselt schnell zu einen Drahtzaun. Die Straße wirkt einsam, aber gut befestigt. Bereit für den täglichen Verkehr. Die Straßenschilder sind dreisprachig, die Namen ähnlich und sind manchmal  bekannt. Oft hört man sie im Fernsehen oder kennt sie aus dem Geschichtsbuch: Jerusalem, Ramallah, Bet El, Itamar.

Vom Aussehen sind die meisten gleich – es gibt Siedlungen mit roten Dächern, weißen Fassaden, vielen Blumen und Bäumen. Andere haben flache, weiße Dächer, kaum Pflanzen, stattdessen aber Plantagen. Die Bauten sind klein. Es gibt keine großen Kreuzungen in dieser Gegend, keine Hochhäuser, keine Parkplätze, keine Neonreklame. Über den Häusern schwebt weißer Nebel und auf der Straße ist viel Staub. Manchmal tauchen Tiere auf oder vereinzelte Menschen im einem Garten oder Café.  Am Himmel – Stille. Es gibt wenig Verkehr, daher auch wenige Tankstellen. Sucht man nach etwas Typischem in dieser Gegend, so sind es Fahnen und Banner. Auch diese sind mehrfarbig und mehrsprachig. Die Fahnen gehören nicht ausländischen Botschaften, sondern den Völkern, die diese Gegend Haus an Haus und Hügel an Hügel bewohnen. Es sind nur zwei, und dennoch kommen sie nicht miteinander aus.

Wir sind im bergigen Hochland in Samaria, in Shomron, heute bekannt als die Westbank. Eine ferne Welt. Sie ist so anders als das, was man über sie hört und zu wissen meint. Es ist Freitag und in den jüdischen Siedlungen, auf den Hügeln verstreut, bereitet man sich auf Shabbat vor. Durch den Nebel ruft aus benachbarten Orten der Muezzin. Nach der Busfahrt steige ich an einem Armeestützpunkt in ein  Auto um. Nach kurzer Zeit, fährt es an einen Schlagbaum heran. Der Fahrer hebt die Hand. Wird durchgelassen. Die kleine Ansiedlung ist dürftig geschützt, im kleinen Häuschen sitzt ein junger Mann. Er winkt. Meine Freundin holt mich von der Einfahrt ab. „Menachem“, ruft sie dem Wächter zu, „komm zu uns am Abend.“ Die Straßen sind asphaltiert, aber am Rande wird gerade ein neuer Häuserblock errichtet und überall liegt weißer Staub: Schöne Häuser, aus weißem Marmorersatz. Neu. Solche, wie das Haus meiner Freunde, bestehen zum Teil noch aus Holz.

Wir gehen ins Haus. Eine bescheidene, sehr heimische Welt umfängt mich. Ich merke schnell – hier leben keine „Städter“. Die engen Zimmer, das zerrissene Sofa, die Holzschränke und der Gemüsegarten, sie lassen mich verschämt meinen Koffer in die Ecke drücken. Ich fühle mich, als hätte ich hoffnungslos Übergewicht bei mir, als wäre ich die Einzige, die an sinnloser Last hängt. Was hier zählt, ist Natur und Familie. Nein, sie leben nicht weltfern. Aber ihr Alltag ist viel einfacher und es macht ihnen nichts aus. Ich halte Ausschau nach typischer „Siedlerkleidung“- bunte Schals, Hosen und Kleider, Flickenmode und langes Haar. Diese Familie ist wohl kein typisches Beispiel, denke ich. Später am Abend erfahre ich, dass die Eltern unter den Ersten gewesen sind, die den Ort vor 20 Jahren gegründet haben. Sie kennen die Einwohnerzahlen, die Nachbarn, ihre Kinder und die Orte, an denen man gefahrlos spazieren kann. Sie arbeiten in der lokalen Yeshiva und in einer Schule einer benachbarten Siedlung. Viele im Ort sind Lehrer, Erzieher, Psychologen, Sozialarbeiter. Die Kinder ergreifen oft dieselben Berufe: religiöse Mädchen lernen Kinderbetreuung, Jungen werden manchmal Ärzte, manchmal Anwälte oder Lehrer. Die neue Generation entdeckt nach und nach neue Bereiche, wie Technik und

Siedlung Har Bracha auf dem Berg Garizim im Zentrum Samarias.  (Foto: Shomron Municipality)
Siedlung Har Bracha auf dem Berg Garizim im Zentrum Samarias.
(Foto: Shomron Municipality)

Gestaltung. Die Siedler, sie sind anders, sie haben keinen großen Gefallen am großen Geld und globalen Austausch: Es würde ihnen nicht helfen, die Kinder großzuziehen oder ihre Häuser gegen die Araber oder die Regierung zu verteidigen. Die Eltern sind Idealisten aus Lebenserfahrung. Die Kinder… wenn überhaupt Idealisten, dann aus Überzeugung oder Erziehung.  Schwer zu sagen, bei dieser neuen Generation. Meine Freundin gehört ihr auch an. Und auch ich. Und wir suchen uns noch, ob im Dorf oder in der Großstadt.

Shabbat hat begonnen. Diese Siedlung ist religiös, wie die meisten im Shomron. Nicht „charedisch“ – nationalreligiös. Wir beten, wir essen. Draußen ist es nicht kalt, nur sehr dunkel. Es werden buntgemischte Lieder gesungen: sefardische, ashkenasische und jemenitische. Auch die Siedlung ist nicht einseitig. Es gibt hier vielleicht nicht mehr als zweihundert Familien mit unterschiedlichen

"Juden vertreiben keine Juden." Aufkleber aus der zeit des Gaza-Rückzugs 2005
„Juden vertreiben keine Juden.“ Aufkleber aus der Zeit des Gaza-Rückzugs 2005

Traditionen, aber sie alle glauben an dasselbe Ideal – „Eretz Israel ist unser Land“. Nichts Neues, und dennoch  ist es schwer. Aufkleber, Plakate und Poster erinnern von Zeit zu Zeit an die Realität der Einwohner: „Juden vertreiben keine Juden“, „Keine Araber – keine Attentate“, „Sie wollen die Häuser abreißen – wehrt euch!“, aber es ist kein Gesprächsthema am Tisch. Menachem ist vorbeigekommen. Wer bewacht jetzt wohl die Einfahrt? Außer Armeefahrzeugen fährt hier kein Auto mehr herauf.

"Keine Araber - keine Attentate"
„Keine Araber – keine Attentate“

Die Siedlung  ist mit Laternen beleuchtet. Das Haus verstummt. Man liest ein Buch oder geht schlafen. Die Dörfer sind wie kleine Lichtinseln, für jeden deutlich zu sehen, in der Schwärze, in der die Berge Shomrons versinken.

Der Morgen bricht an. Warum erwarte ich heimlich, dass etwas geschieht? Ich verspäte mich zum Morgengebet. Noch immer ist es neblig, vielleicht ist es hier immer so. Das Gras ist nass vom Tau. Viele Kinderstimmen klingen in den Straßen. Die Synagogen sind voll. Daheim warten das Essen und die Lieder. Die Ruhe schläfert mich ein. Als die Nachbarn und Freunde vorbeikommen, verschwinde ich im Zimmer und lege mich schlafen. Neben mir schläft ein Baby, das die Attraktion des Tages gewesen ist. Seine Mutter, eine sehr junge Frau, sagte, sie könne es nicht erwarten, das Kind wachsen zu sehen. Der Vater wirkte noch jünger und trug schlabbrige Jeans. Sie ekelten sich noch immer vor dem Windelwechseln.

Sicht auf Shchem (Nablus), Nordteil.
Sicht auf Shchem (Nablus), Nordteil.

Ich reiße mich aus dem Schlaf. Zeit für einen Spaziergang. Bisher habe ich nur ein paar Straßen und die Aussicht vom Berg gesehen. Am Berghang stehen die Häuser von Nablus – Shchem, der berühmt-berüchtigten Stadt, verstreut in der Gegend. Sie wirken unbedeutend. Beim Spaziergang verstehe ich, wie klein die Siedlung wirklich ist. Auf einem Nachbarhügel stehen ein paar

Sicht auf Shchem (Nablus), zentraler Teil.
Sicht auf Shchem (Nablus), zentraler Teil.

Wohncontainer. „Man darf dort nicht bauen“, erklärt meine Freundin. Ich weiß nicht, wo man tatsächlich bauen darf. Fast jeder  jüdische Ort hier hat eine schwere Geburt hinter sich. Was mit einer Gruppe mutiger  und kompromissloser Israelis anfängt, die auf einem Hügel notdürftige Holzbauten oder Wohnwagen hinstellen, kann mit einem Überfall aus den umliegenden arabischen Dörfern oder den Baggern der Regierung enden, die dem Projekt ein Ende bereiten. Siedlungen kommen und gehen. Was im Fernsehen oft aussieht wie eine Ordnungswidrigkeit und politische Auseinandersetzung, ist an Ort und Stelle ein Kampf ums Überleben.

Der Abend kommt schnell und Shabbat ist nun vorbei. Es wird für mich Zeit, zu gehen. Ich muss ins Landeszentrum, zu Freunden, zur Arbeit, ich habe nichts mehr zu tun in Shomron. Ich würde es gern bereisen, bewandern, aber allein ist das wohl zu riskant. Die Idee kam mir spontan am Nachmittag. Ich helfe meinen Freunden bei einem technischen Problem. Sie können leider kein Englisch. Ich muss mit meinem Koffer weg und es gibt keinen Bus. Sie finden für mich eine Mitfahrgelegenheit. So fahren die Meisten hier in der Gegend. Ob das gefährlich ist? Ich frage nicht nach. Wieder ist es Nacht und ich umarme meine Freundin und danke allen. „Ich war still und habe kaum geredet, aber kommt nur daher, dass ich so viel zu lernen hatte. Ich habe wirklich viel gelernt. Es war schön. Todá.“

Im Auto zerquetscht mir mein Koffer die Beine. Die Mitfahrer sind südamerikanische Juden. Das Auto zerschneidet rasant die Dunkelheit. Wie die israelische Verwaltung doch gut vorgesorgt hat: Der Asphalt ist beleuchtet, die Straßen gut gebaut. Der Druck in den Ohren nimmt ab – wir fahren die Berge hinab. Eine Barriere nähert sich, ein „Checkpoint“. „Woher kommst du?“, fragt unser Fahrer eine hübsche Soldatin. Er will ihr einen Kaffee bestellen. Sie lässt uns lachend durch. Wir fahren weiter. Es dauert eine halbe Stunde, eine ganze Welt hinter sich zu lassen. Ich starre noch aus dem Fenster, da fragt mich der Fahrer: „Gleich musst du aussteigen, nicht wahr?“ Die Einfahrt nach Rosh Ha’ayin im Zentrum von Israel. Die Reise ist vorbei. Ich steige aus und sehe das altbekannte Flachland vor mir: Hochhäuser. Tankstellen. Busse. Verkehr. Bäume. Israel, wie man es kennt. Wie wir Neuen es kennen. So und nicht anders. Das andere Israel bleibt Augen und Köpfen verborgen. So verborgen und unerreichbar, dass sogar die Journalisten nicht wissen, worüber sie schreiben. Die jüdischen Siedler, – sie sind keine Erfindung von heute. Die ersten kamen in 1882*. Die anderen kämpften um  1948. Und die heutigen sind in den Bergen, die unsereiner nicht kennt, – und sie halten nichts von Israels Grenzen auf den Landkarten. Ich muss mich fragen: Wo lägen unsere heutigen Grenzen wohl ohne sie? … “


 

Der obige Text wurde von mir geschrieben und erschien in der Novemberausgabe 2011 Nr.69 der Jüdischen Zeitung, und ebenso in der Studentenzeitschrift „LEV“ 2011. 

Gemeint sind die ersten organisierten Einwanderungswellen nach Eretz Israel unter osmanischer Herrschaft. Nennenswerte jüdische Siedlungsversuche und auch Errungenschaften gab es durchgängig vermehrt im Zuge des  gesamten 19.Jahrhunderts.