Archiv der Kategorie: Innenleben

Beton und Farben

Wenn wir schon beim vorherigen Eintrag beim Thema Jugend und Kinder gelandet sind, dann werden die folgenden Bilder wohl passend sein.
Wie ich schon erwähnt habe, leben im Gusch Etzion, eine Gegend mit ca. 22.000 Einwohnern, sowie in ganz Judäa sehr viele Kinder und Jugendliche – überdurchschnittlich viele innerhalb der jüdischen Bevölkerung, und erst recht innerhalb der arabischen.

Die jüdische Gesellschaft in den Siedlungen legt besonderen Wert auf Kindererziehung, auf Freizeitbeschäftigung, Bildung und vor allem Sozialisierung. Beinahe jeder der 19 Siedlungen im Ballungsraum Gusch Etzion (Ost und West) hat ein Jugendzentrum und mindestens eine Jugendgruppe für verschiedene Altersgruppen von Kindern und Jugendlichen. Nachmittagsaktivitäten innerhalb von Hobbygruppen sind populär wie Zeichnen, Gymnastik, Tanz, Ballett, und auch in Rahmen des Unterrichts werden viele Projekte veranstaltet, die die Kinder und Jugendlichen aus der Klasse in die Umgebung befördern – Wandern, Freiwilligenarbeit, Gestaltungsprojekte.

Nun habe ich bei einem meiner täglichen Gänge zur Arbeit einige Werke zweifellos junger Künstler entdeckt, dort, wo sie zweifellos eher weniger zu erwarten wären: Auf den Betonschutzwällen und Armeewachpunkten an der großen zentralen Verkehrskreuzung. Die Betonaden, wie sie bei uns heißen, stehen vor den Haltestellen und an der Kreuzung aus der bitteren Notwendigkeit heraus, die Wartenden vor Autoattentaten zu schützen, wie sie leider vor allem in der letzten Zeit die Fußgänger und Reisende betroffen haben. Die Armeewachpunkte dienen als Schutzstand für Soldaten für den Fall, dass sich ein größeres Attentat ereignet und es beispielsweise zu Schusswechsel kommt.

Diese Bilder, die ich weiter unten zeige, sind eine kleine Illustration dessen, wie man Leben auch in schweren Bedingungen lebenswert gestalten kann. Nicht nur der berühmte und berühmt gemachte britische Wandkünstler Banksy weiß, wie man Bilder auf die palästinensische Seite der Sicherheitsmauer in Bet Lehem malt – aber diese Bilder werden wohl kaum die internationale Presse erreichen.

image
Soldaten-Wachpunkt. Dahinter: Haltestelle Richtung Hevron.

„Gusch Etzion – Haus Israels“, eins der Slogans der Regionalverwaltung.

image
Soldatenwachpunkt. Dahinter - Haltestelle Richtung Hevron.

Ein Zitat aus dem Buch Jeshayahu/Jesaja, Kap.2 Vers 4, die Prophezeihung für die Menschheit in der Endzeit: „Und sie werden ihre Schwerter zu Spaten umschmieden und ihre Speere zu Baumscheren (und kein Volk wird gegen ein anderes in den Kampf ziehen und man wird keinen Krieg mehr lernen).“

image
Soldatenwachpunkt, Haltestelle Richtung Jerusalem

„Lächel mal – alles ist zum Guten“, bekannter und beliebter Spruch in ganz Israel.

image
Soldatenwachpunkt und Haltestelle Richtung Jerusalem

„Noch ist unsere Hoffnung nicht verloren.“ Zitat aus der israelischen Nationalhymne (geschrieben von Naftali Herz Imber).

image
Betonschutzwälle.

Zitat des 22-jährigen Offiziers Uriel Peretz sel.A., welcher 1998 im Südlibanon bei einem Überfall von Terroristen getötet wurde. In seinem Notizblock im Offizierskurs schrieb er:
„Aus all den Dornen, die mir in den Körper eingedrungen sind, könnte man eine quadratmetergroße Rasenfläche anlegen, aber das sind nicht einfach nur Dornen. Das sind Dornen Israels. Wer in diesem Land lebt, muss auch seine Dornen mit Liebe annehmen können.“ Ein Teil dieser Notiz steht auf dem Betonwall.

image

„Einigkeit“. Daneben – eine Israelkarte, wie man sie sich wünscht – ohne die Waffenstillstandsgrenzen von 1948.

image

„Am Israel Chai“ – „Ich lebe, mein Vater lebt noch, das jüdische Volk lebt“, Paraphrasierung auf den Ausspruch von Josef, dem Sohn des Vorvaters Ja’akov. Daneben: „Unsere Herzen werden wie ein Herz weiterschlagen“.

Es gibt ein Sprichwort im Hebräischen, das heißt „Es gibt zwei Arten, eine Lage zu beschreiben. Einmal kann man sagen: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Oder man kann sagen: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“
Meine Hebräischlehrerin aus Köln, gebürtige Israelin, pflegte zu sagen: „Der erste Satz gilt für die Deutschen, und der zweite für die Israelis.“

Ein Blick nach innen. Das jüdisch-muslimische Selbstverständnis

…Es ist vier Uhr morgens. Ich stehe am Fenster. Ich bin  mitten in der Nacht aufgewacht und mache mir einen Tee. Gleich werde ich wieder ins Bett gehen. Das Fenster ist leicht geöffnet, draußen ist es ruhig, alles schläft, das Dunkel wird gleichmäßig von den Lampen der Karavans, der Schnellstraße und dem nahgelegenen Städtchen Efrat aufgehellt. Hinter der Lichtgrenze – tiefschwarze Nacht.
Und plötzlich ist es da. Ein Schall rollt langsam heran, von den Bergen, und erhebt sich in die Luft; eine Stimme, der von überall her gleichzeitig zu kommen scheint. Der Schall spaltet sich auf in verschiedene Töne, die ihn mittragen, und auf verschiedener Höhe sich zusammenfinden in eine mächtige Stimme, die sich wie eine Welle über die Umgebung auszubreiten scheint. Sie kommt näher, nimmt zu und wird dann geringer, und während eine Melodie, die sich entfernt aufzusteigen wähnt, einen nur ihr bekannten Höhepunkt erreicht hat und wieder abklingt, stärkt sie ein aufwallendes Echo, das ihr folgt und sie nicht verschwinden lässt. Und hinter diesem noch eines, und noch eines.

Das muslimische Gebet. Fünf Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden erschallt die Stimme des Mu’azzins in jedem arabisch-muslimischen Dorf und ruft die Gläubigen zum Gebet auf. Tagsüber wird man bei dem hohen Lautpegel, der selbst hier in den Bergen herrscht, kaum darauf aufmerksam. Wer aber wach ist, noch bevor die Sonne aufgeht, wird Zeuge dieses Phänomens.

Kein Tag, an dem er nicht ruft. Und nie ruft er allein. Ob nun eine Tonbandaufnahme, oder ein tatsächlicher Geistlicher, der rund um die Uhr seine Pflicht erfüllt, der dort in den Moscheen steht und mitten in der Nacht Menschen aus dem Schlaf zur heiligen Bestimmung reißt – es wird nicht ausgelassen. Der Mu’azzin ruft, und er ruft in jedem der umliegenden arabischen Dörfer, und er macht dies schon, seit diese hier existieren, und in jedem muslimischen Land macht er es. Worte schallen aus seinem Ruf hervor, und ich kann nicht unterscheiden, wo der Ruf zuerst beginnt, und wo er von den anderen aufgegriffen wird – in Abdallah Ibrahim, in Wadi Nis, in Bet Fajjar, in Betlehem, in El Arub, in Jjaba, Zurif, Nahalin, Bet Jjalla…? Und sie alle singen und rufen in einer Monotonie, die keinen Raum für Interpretationen lässt. Sie rufen Gott, und sie reden von der Größe Gottes, und sie holen den Propheten in ihrem Ruf vom Himmel*, und in einem gespenstischen Vielklang, der sich von jedem Hügel wiederholt und vervielfältigt, bezeugen die Rufe die Anwesenheit derjenigen, die die Botschaft von der Größe Gottes hinaustragen sollen. Die Untergebenen vor Gott**, die wahren Gläubigen. Sie tragen es in die Welt, und die, die sich nicht in ihren Reihen finden, sollen es hören und verinnerlichen.

– Zweierlei Bedeutung hat der Mu’azzin für die, die ihn hören: Wer ihm folgt – folgt dem Aufruf, in den Reihen der Armee des Weltschöpfers zu stehen, und seinen Befehlen und den Befehlen seines Gesandten, des Propheten, zu gehorchen. In allem, was er tut, sagt und denkt. Auch wenn er schläft, und der Schöpfer ruft, dann steht er auf, und schließt sich der Reihe an. Der Schöpfer steht über ihm. Es gibt kein Wenn und Aber.

Wer aber den Mu’azzin hört und nicht weiß oder nicht verstehen will, was der Schöpfer will, und wofür der Prophet hierhergekommen ist – der soll verinnerlichen und wissen – er wird gesehen, und seine Taten werden gesehen, und die Menschen, die das Wort des Schöpfers und seines Propheten erfüllen, kennen ihn. Er wird sich nicht lange davon enthalten können , nicht lange wird er die Geduld des Schöpfers strapazieren, der will, dass der Mensch, den Er geschaffen hat, ihm folgt. Seine Getreuen sind um ihn herum, und sie stehen bereit. Höre, oh Ungläubiger, was der Schöpfer dir zu sagen hat. Höre, dass sein Prophet hier gewesen ist, um dir mitzuteilen, dass du nicht tust, was der Schöpfer will. Seinen Willen willst du nicht sehen, aber seine Stimme kannst du nicht überhören. –

Und fünf Mal am Tag und in der Nacht, bei jeder Tätigkeit, übertönt der Ruf im Namen des Schöpfers der Welt alles Weltliche, und hallt von den Bergen, aus jedem Dorf. Und ich stehe am Fenster des kleinen Karavans, blicke in die Nacht hinein und begreife, wo ich lebe.
Das ist keine virtuelle Welt, und kein illusionsbeladenes Gedankenexperiment, kein Diskurs, kein Logikspiel, kein Film und keine Theorie.
Das hier ist ein Universum, in welchem jede Existenz fest verbunden ist mit dem, woher sie kommt, was sie tut, wohin sie geht.

Ich lebe mitten unter Menschen, deren gesamte Lebenssicht keinen Platz für Zweifel lässt, keine Notwendigkeit für Fragen hat und die sich nicht mit einer Suche befasst. Hier sucht niemand, und hinterfragt niemand. Hier wird gelebt, was als richtig festgelegt wurde, hier wird geboren, gekämpft und gestorben, für das, was als Wahrheit gilt. Es ist eine Entehrung der Wahrheit, eine Entehrung von allem, was wichtig ist – Gott, Familie, und man selbst – wenn man für diese nicht bereit ist, alles zu tun – das letzte Hemd hinzugeben und das letzte Hemd zu nehmen. Und diese Menschen halten fest in ihrer Hand, woran sie glauben, und sie halten sich mit Zähnen und Krallen daran, wo sie leben, und was sie haben. Sie fragen nicht, ob es gut ist, ob es strategisch ist, ob es der Sicherheit oder dem guten Ruf dient, oder ob es die Welt verbessern kann, oder Gnade oder Menschlichkeit erwirken wird oder Fortschritt bringt. Ihnen wurde gesagt, was richtig ist. Vom Vater, vom Großvater, vom geistigen Vorsteher, vom Propheten. Und selbst, wenn es der politische Funktionär der einen oder anderen Partei gewesen ist. Es ist alles eins. Alles Wille des Schöpfers, und vorgeschrieben***, und nichts kann und wird es vom Fleck bewegen –  das, was richtig ist.

Diese Menschen finden sich nicht ab mit Erklärungen von Fremden. Sie haben nicht viel, sie haben sich nie darum bemüht, viel zu haben, viel zu schaffen, viel zu bewegen. Das ist nicht die Lebensaufgabe. Lebensaufgabe ist es, zu gehorchen. Und die Ehre nicht zu Schaden kommen zu lassen. Sie sind die älteren Brüder****. Sie wissen, was sie wollen, und sie verstecken es nicht. Wie kannst du deinen Stolz und deine Ehre verteidigen, wenn du sie versteckst? Was hast du, wenn du diese nicht mehr hast? Nichts.

Die jüngeren Brüder**** hingegen suchen noch nach sich, und nach tausenden von Jahren sind sie sich nicht mehr sicher, wer sie sind, und was sie wollen. Ihre Lebensideologie ist eine andere. Die Menschen in den Karavanen, und den hübschen Steinhäusern, die sich in die Gegend gewagt haben, wollen auch nicht mehr in einer Welt von Virtualität, Illusionen und Zweifeln leben. Sie wissen, man hat ihnen das generationenlang erzählt, dass sie auf der Suche nach sich selbst sich genau hier wiederfinden werden. Auch sie kämpfen darum, die Wahrheit zu finden, und diese zu verteidigen.

Aber sie kommen aus einer Welt, die jahrhundertelang nirgendwo anders existiert hat, als im Buch. Das Volk des Buches°*. Der Gedanken, der Fragen, der Gespräche, der Zweifel und der *Abwägungen, des ständigen Prüfens und Hinterfragens – ist es gut, ist es richtig, ist es nötig, ist es förderlich, was ich im Leben tue? Habe ich Recht?
Diese Menschen sollten untergeben sein, sie sollten tun und dann sollten sie hören° und nachdenken. Aber ihr Charakter und ihr Innerstes widerstrebt sich diesem. Sie fragen. Sie streiten. Sie suchen. Sie sehen und hören und können es nicht glauben°°. Und jetzt, wo sie endlich die Möglichkeit bekommen, aus der Wanderung herauszugehen und so, wie es scheint, das Zepter zu ergreifen und zurückzukehren dorthin, woher sie zu stammen scheinen – weichen sie zurück. Und nehmen zaghaft die „Einladung“ an, aber wissen nicht, wie sie mit all dem umgehen sollen.

Ihnen gegenüber stehen ernste Menschen. Kampferprobt, und ohne Fragen. Um zu überleben, um fest auf dem Boden der Tatsachen zu stehen, brauchen sie nicht zu differenzieren. Sie sehen ihre jüngeren Brüder, die erst so spät gekommen sind, um in diesem Land, von welchem sie wissen, dass es ihr Ursprung ist, Tatsachen zu schaffen. Aber sie schaffen keine! Sie reden, sie fragen, sie zweifeln, sie halten sich am Land fest, aber sind sich nicht sicher, ob und was es bringt.

Sie verteidigen nicht die Ehre dieses Landes, und ihre Wahrheit, und den Stolz kennen sie auch nicht recht. Sie sind jung, sie haben viel erlebt, das ist wahr; aber hier in diesem Land benehmen sie sich nicht wie Hausherren, sondern wie launische Gäste, wie verträumte Mieter und wie unzufriedene Erben, die nicht um den Wert ihres eigenen Nachlasses wissen.

– Und so stehe ich am Fenster, höre mich in die Töne der Dunkelheit hinein, und ich verstehe, dass wir hier, an diesem Ort, andere Augen haben müssen, um zu sehen, andere Ohren, um zu hören, und vor allem ein Herz, das sich seiner Liebe treu sein muss. Wir, trotz unser aller Bemühungen, trotz der gewaltigen Leistung der Transplantation einer ganzen Nation in einen für uns schon lange Zeit in Totenstarre verharrten ‚Körper“°°° in so kurzer Zeit, sind noch nicht am Ziel angekommen.

Wir sind noch nicht mit der Umgebung hier verwachsen. Noch nicht in die Erde eingegangen, noch keine Wurzeln geschlagen, noch nicht verschmolzen. Wir träumen noch. Wir können nicht glauben, was wir sehen, und sehen nicht, wer neben uns ist. Wir verstehen noch nicht die Sprache dieses Ortes, trotz der Tatsache, dass wir die Ursprungssprache hier haben aufleben lassen. Aber mit den Menschen, die sich hier in unserer Abwesenheit verwurzelt und diesen Ort mitgestaltet haben, können wir nicht sprechen. Wir kennen ihre Sprache nicht, und sie verstehen nicht, weshalb sie die unsere sprechen sollen. Wir wissen, wie man die Wüste aufblühen lässt und wie man Wein aus dem Bergen bringt, aber wir wissen nicht, wie man diese verteidigt.

Denn wir kommen aus vielen Welten, und haben es uns nicht mehr und nicht weniger zum Ziel gesetzt, diese hier zu vereinen! Ein Paradies zu schaffen, in dem jeder seinen Platz haben würde! – Und haben in aller Eile und heiliger Begeisterung uns nicht die Mühe gegeben, diesen Platz für das Paradies erst fest in den Händen zu haben, dafür zu schwitzen, zu leiden, zu leben und zu sterben. Viel zu eilig sind wir, viel zu hochstrebend, viel zu visionär, viel zu abstrakt. Unsere Füße stehen unruhig auf der Erde, der Kopf ist im Himmel und die Füße wollen immer wieder auf die Leiter steigen^. Unsere Seele mag das Hier und Jetzt nicht; sie klammert sich an die Vergangenheit und träumt schon heute vom übermorgen^^. Das kann nicht jemand verstehen, der fünf Mal am Tag daran erinnert wird, dass er sich demjenigen zu unterwerfen hat, der ihm diesen Tag gegeben hat.

Noch viel haben die Juden aufzuholen, und das, so schnell es nur geht, wenn sie nicht verlieren wollen, was sie eben erst wieder entdeckt haben – ihr Selbstverständnis. Denn die Araber werden das ihre für niemanden hinterfragen. So sind die Regeln des Nahen Ostens.

 


 

Textverweise: 
* Der Ruf des Mu'azzins, der Gebetsrufers:
الله أكبر,  أشهد أن لا اله إلا الله,   أشهد أن محمدا رسول الله,    أشهد ان عليا ولي الله,   حي على الصلاة ,  حي على الفلاح,   حي على خير العمل ,  الصلاة خير من النوم,   الله أكبر,  لا اله إلا الله
Gott ist groß, ich bezeuge, dass es keine Gott außer Gott (Allah) gibt, ich bezeuge, dass Mohammed Gottes Prophet ist, ich bezeuge, dass Gott über mir und mir (meiner) ist, eilt zum Gebet, eilt und habt Erfolg, eilt zu dem vorzüglichsten Dienst, das Gebet ist vorzüglicher als der Schlaf, Gott ist groß, es gibt keinen Gott außer Gott (Allah).
** Islam, (arab.) - totale Hingabe und Unterwerfung an Gott und Seinen Wunsch.
***  Der Determinismus im Quran: "maktub" und "muqaddar" als Begriffe, die darauf deuten sollen, dass Gott 1. ein Vorwissen von allen Taten und Entscheidungen des Menschen hat, und 2. schon vorentschieden hat, was für Ereignisse geschehen werden.
****  1.Buch Moses, Kap.16, 15 - Geburt Yishma'els, Sohnes Avrahams, der als Vorvater der Araber gilt. Kap.21, 1-7 - Geburt Yitzhaks, Sohnes Avrahams, der als Vorvater der Juden/Hebräer gilt.
°*  أهل الكتاب  Das Volk des Buches. Islamischer Begriff für Anhänger der "Buchreligionen", denen Gottesoffenbarungen in einem Buch verkündet worden sind, namentlich Juden und Christen (und andere Gruppen, je nach Ausnahmen; zeitweise waren nur Juden darunter gezählt). Die Anhänger der Buchreligion sollten nach islamischem Recht nicht zwangsweise konvertiert oder bedrängt werden, sondern eine spezielle Kopfsteuer für die Befreiung von islamischen Pflichten zahlen und wurden in der muslim.Gesellschaft vom Gesetz geschützt.
° In Anlehnung an 2.Buch Moses, Kap.24, 7 - die Antwort der Juden auf das Vorlesen des Gesetzes Gottes am Berg Sinai - "wir wollen tun und wir wollen hören".
°° Ähnlich werden die Reaktionen des Volkes Israel auf den Auszug aus Ägypten, das Versprechen des Landes Israel in der Tora beschrieben. Psalm 126, 1: "Als Gott die Rückkehrer von Zion zurückbrachte, da waren wir wie Träumende." Theodor Herzl im Buch "Altneuland": "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen."
°°° In Anlehnung an die "Vision der trockenen Knochen", Yehezkel 37: Die Prophezeihung der "Wiederbelebung der trockenen Knochen" wird im Text des Buches Yehezkel und von späteren Kommentatoren als das Wiederbeleben des Volkes Israel als Nation im eigenen Land und als Versprechen der Rückkehr aus dem Exil gesehen. (37, 11-15; 21-22)
^ In Anlehnung an 1.Buch Moses, Kap.28,12 - die Leiter im Traum von Ya'akov, dem Vorfahren der Juden, deren "Füße" auf der Erde stehen und deren "Kopf" im Himmel gründet.
^^ In Anlehnung an den Erlösungsgedanken der Glaubenssätze der jüdischen Religion. Siehe auch: Sprüche der Väter, Kap.4, 22: "Besser eine Stunde der Rückkehr und der guten Taten in dieser Welt als das ganze Leben der kommenden Welt; besser eine Stunde im Geiste der kommenden Welt, als das ganze Leben in dieser Welt."

Einige Gedanken zum Blog

Im Zuge meines Lebens hier in Judäa, als Einwohnerin, Journalistin und Aktivistin der Siedlerbewegung, werde ich Zeugin verschiedener Entwicklungen und Vorkommnisse, manche Bestandteile des Alltags, andere neu, besorgiserregend oder vielversprechend. Ich spreche mit Menschen – einfachen Einwohnern, Aktivisten, Soldaten, Historikern, religiösen und politischen Autoritäten – und erfahre jedes Mal etwas Neues. Unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens hier speziell in Judäa und generell in allen Siedlungen herrscht eine reiche Innenwelt, und es ist nicht, dass sie zwingend darauf wartet, mit Außenstehenden geteilt zu werden.

Es gibt alles, was sich die Fantasie erlaubt, hier in der Siedlungswelt. Über das Eine wurde viel geschrieben, über das andere wohl noch nie – zumindest im Ausland. Sozialer Aktivismus für Bedürftige? Gibt es. Drogenprobleme unter jungen Leuten? Gibt es. Behindertenwerkstatten und ADHS-Therapie für Kinder? Gibt es. Diskriminierung palästinensischer Araber? Gibt es. Koexistenz und Freundschaft? Gibt es. Es gibt steinewerfende Araber und steinewerfende Juden. Es gibt Soldaten, die arabischen Kindern Süßigkeiten und Essen schenken, und Soldaten, die von arabischen Autofahrern, die sie kontrollieren, Zigaretten verlangen. Es gibt Siedler, die verbringen einen Monat lang in Norwegien und sprechen fließend Norwegisch; in ihrer Freizeit bauen sie ihr illegales Haus. Es gibt Siedler, die spenden Altkleidung und Gesäuertes zu Pessach an arabische Bedürftige. Es gibt Araber, die riskieren für ihren Kontakt zu den Siedlern, ihre Arbeit zu verlieren, und manche haben sie schon verloren. Es gibt Juden, die es für eine Schande befinden, jemals das Land Israel zu verlassen und ins Ausland zu fahren – sei es nur für einen Ausflug. Es gibt Siedler, die veranstalten gemeinsames Fasten mit Muslimen, andere machen Führungen in arabische Dörfer, und wieder welche zünden Moscheen an oder stechen Reifen arabischer oder Armeefahrzeuge durch, und dann kommen wieder andere und bekunden Solidarität mit den Betroffenen.

Was es nicht alles gibt! Und das ist nur der Anfang. Für viele Themen bedarf es vorhergehenden Wissens, und so neu, wie ich hier bin, habe ich selbst auch noch vieles bei der Thematik Siedlungen und jüdisch-arabisches Zusammenleben, ebenso wie Aktivismus im Bereich Judäa und Samaria und außerhalb, nachzuholen und dazuzulernen. Da gilt es nicht immer, direkt mit der eigenen Nase in der Suppe zu rühren. Um etwas in Schrift zu reflektieren, muss man selbst es tief genug in sich aufnehmen und verarbeiten.

Auf der anderen Seite gibt es auch Themen, die nicht einfach angeschnitten werden können, weil ich (und andere kompetente Menschen, deren Meinungen ich sehr schätze) es nicht für angebracht halten, diese in Rohformat nach außen zu bringen. Vielleicht würden manche es Zensur nennen. Fakt ist, dass es hier im Blog sicherlich vielen an Texten und und Themen mangelt, die vorzugsweise von der Presse angeschnitten wurden und werden (in welcher Form auch immer). Ich betreibe ja eine Art „Aufklärung“, wieso mache ich diese also nicht großflächig, oder fertige eine Art Informationspool an, oder gebe unzensiert einfach alles wieder, was ich sehe und höre? Ist nicht das die Aufgabe eines Journalisten?

Mag sein. Doch meines Erachtens, und ich muss diese Einschätzung tagtäglich für mich selbst neu definieren, ist die Verantwortung eines tiefer gehenden Journalisten – der es auf Einblick und Analyse ankommen lassen will und nicht auf bloße Wiedergabe eines Informationsschwalles –  sehr groß. Ich spüre diese Verantwortung, insbesondere, wenn ich auf ein Thema treffe, über welches sich ein Bericht oder eine Analyse unglaublich lohnen – aber welches ohne nachhaltige Arbeit zuvor einfach nicht in so einer Form ansprechbar ist. Ein regulärer Journalist steht vor allem auch nicht nur unter Themen-, sondern auch unter Zeitdruck. Der Blogger hat das Privileg der freien Verfügung über Zeit und Prioritätensetzung.

Ich muss zugeben, diese fallen mir bisweilen nicht leicht. Es gibt so viel, worauf ich treffe, und was ich erklären, wiedergeben, diskutieren, kritisieren oder positiv betonen möchte. Es gibt Erwartungen, die andere an mich stellen, und auch die, die ich an mich selbst stelle, und die letzteren sind für mich ein sehr ernstzunehmender Druck und Maßstab.

In letzter Zeit wurde ich aufgrund des Blog-Projektes von verschiedenen Organisationen, Medien und Veranstaltern angeschrieben, die auf das Projekt aufmerksam geworden sind, die sich für die Thematik interessieren oder es als eine gute Idee ansehen, die Stimme der jüdischen Siedlerbewegung in ihr Angebot aufzunehmen und der Diskussion freizugeben. All das bedarf einer Vorbereitung, und auch der Entscheidung meinerseits, wie ich auf diese Anfragen reagiere, was von dem, das ich kenne und lebe, ich nach außen tragen möchte, und welchen Effekt es haben wird. Und natürlich ist sie immer auch da – die Frage nach der journalistischen Integrität, gegenüber der Frage nach eigenen oder gemeinschaftlichen Interessen.

Ich glaube fest daran, dass die Zeit der Gedeihung und Reifung des Projektes sehr förderlich sein wird, und mit der Zeit auch der Umfang und die Tiefe der Berichterstattung wachsen werden und viel mehr Menschen zugänglich sein werden. Viele Kreise werden sich schließen und Fragen ihre Antworten finden.

Alle Menschen, die hier in Judäa und Samaria leben, haben ihre eigene Stimme, ihre Geschichte und die Geschichte der Gemeinschaft, der sie entstammen, sie verdienen es, gehört zu werden – und trotz manchmal gewaltiger Unterschiede erkennt man mit einem Blick hinter die Hülle, wie sehr sich manche Gegensätze eigentlich nahe stehen. Mit der Zeit werden diese es erkennen, und das wird der Zeitpunkt für eine Symbiose sein. Das ist übrigens kurz und ungenau gefasst auch meine Sichtweise auf den jüdisch-arabischen Konflikt, aber ich denke, dass die Berichte zu dieser Thematik hier früher auftauchen werden, als dieser sich lösen lassen wird.  🙂

Mit diesen Worten, bleiben wir gespannt –  ihr, die Leser, und ich, der Schreiberling – auf das, was auf uns hier auf  DIESIEDLERIN.NET  noch zukommen wird.

Chaya

Das europäische Gedankenkonstrukt und ich

Wie sehr sich die europäische, insbesondere die deutsche, Betrachtungsweise des Lebens von der israelischen unterscheidet, kriege ich hin und wieder am eigenen Leib im Alltag zu spüren. Eine Art gedankliche und emotionale Dissonanz zwischen dem, was ich sehe, und dem, was ich empfinde, und ich weiß, es liegt oftmals nicht an dem sich faktisch vor meiner Nase Abspielendem, sondern einzig und allein an meinen Interpretationsgewohnheiten. Das Leben in einer Siedlung und in „rohen“ Bedingungen, unberührt von der gewissen Uniformierung des Großstadtlebens, bietet die beste Gelegenheit für solche „privaten Verhaltensanalysen“.

Neulich wurde ich von einer deutschen Journalistin gefragt, wie sehr mich die pazifistisch orientierte Erziehung in deutschen Schulen beeinflusst habe und wie sich das wohl mit meinem Wunsch vereinbaren ließ, in der israelischen Armee zu dienen. Diese Frage war mir mit Respekt und Interesse gestellt worden, und ich habe mich nicht verstellen müssen, als ich sagte, zu meiner Zeit hätte es gar keine Gespräche über Pazifismus an meiner Schule gegeben, und auch nur sehr, sehr wenig über die Situation in israel.

Es ist wahr, dass ich noch vor einigen Jahren in meiner alten Schule weniger Einmischung in die Denkweise seitens öffentlicher Organe gespürt habe, als ich es heute durch die Medien mitbekomme. Vielleicht war ich einfach ein Mensch, an welchem die Versuche, mir eine bestimmte Denkweise aufzudrängen, leichter scheiterten; vielleicht empfand ich meine Schule als einen tatsächlich meinungsoffenen, ideologiefernen Ort. Wie dem auch sei, dies und die Erziehung daheim sowie meine angeborene Neugier hatten mich offen werden lassen für ein unkonventionalles Betrachten dieser Welt, und mir einen „Freipass“ für selbstständiges Denken gegeben. Ich muss sagen, ich hatte es in dieser Hinsicht wirklich leicht.

Aber ich will es nicht abstreiten: Es sitzt da. Das deutsch-europäische Erbe. Die Art zu denken, zu kommunizieren, Vergleiche aufzustellen, zu erwarten und zu (be-)richten. Woran erkenne ich, dass es etwas spezifisch „deutsches“ oder „europäisches“ ist? In meinem Fall ganz einfach –  ich erinnere mich, woher ich eine bestimmte Angewohnheit habe, in dem Moment, wo ich sie bewusst bei mir erfasse, und erinnere mich an die Verhaltensweisen oder Äußerungen anderer um mich herum in dieser oder ähnlicher Situation, in Deutschland oder in anderen Ländern, bei europäisch, russisch oder orientalisch geprägten Menschen. Und meine deutsche „Vergangenheit“ ist weiß Gott nicht so lange her,  dass ich die Veränderungen, die in meiner Weltsicht und meinem Verhalten seit meiner Einwanderung nach Israel stattgefunden haben, nicht merken würde.

Meine Beobachtungen? Ganz gleich, wie „jüdisch geprägt“ die Abendlandstradition auch sein mag oder man sie gern als solche hinstellt – sie hat nur allzu oft nichts gemein mit dem, was man in Israel zu hören und zu sehen bekommt. Vor allem in meiner Umgebung, in den jüdischen Siedlungen von Judäa und Samaria. Die Realität hier hat viele schöne, sehnsuchtsvolle, gar romantische Seiten; aber es gibt freilich genügend Situationen, da würde auch ich als ein dieser Realität positiv gegenüberstehender Mensch die Worte „erstaunlich“ oder „gewöhnungsbedürftig“ nehmen, um sie zu beschreiben. Ohne die diesen Worten eigene negative Konnotation.

Ich gebe euch einige Beispiele.

◊◊◊

Israeli_reg_6732
Israelisches Kennzeichen. Quelle: Wikipedia

Da ist zum Beispiel das Thema per Anhalter fahren. Ein häufiger Kritikpunkt an Siedlern auch seitens der restlichen Israelis, die sich fürchten, per Anhalter in diesen Gegenden zu fahren. Anhalterfreunde, die auf dieselbe Weise durch ganz Europa oder Südamerika reisen, mögen uns vielleicht verstehen – wohl kaum ein besonnener Tourist. Aber das ist ja noch das halbe Ding. Einem „Uneingeweihten“ in das komplizierte Nebeneinander von palästinensischen Arabern und Juden in Judäa und Samaria fällt schlichtweg die Kinnlade hinunter, wenn dieser bemerkt, wann ein jüdischer Israeli seinen Arm zum Anhalten hebt und wann wieder senkt. Er hebt nämlich den Arm, wenn ein Fahrzeug mit gelbem Nummernschild vorbeifährt, und senkt ihn schnell wieder, wenn eins mit weißem  Nummernschild und grünen Zahlen ankommt!

 

Kennzeichen der Palästinensischen Autonomiebehörde. Quelle: Wikipedia
Kennzeichen der Palästinensischen Autonomiebehörde. Quelle: Wikipedia

Denn im Fahrzeug dieses Kennzeichens sitzt zu 99,9% ein Araber, ein nicht-israelischer Araber noch dazu, und von diesem wird sich kein jüdischer Israeli fahren lassen. Zu keiner Tageszeit, unter keinen Umständen (außer wenn er den Fahrer kennt, und selbst dann nicht unbedingt, und auch ein solcher Fall ist praktisch unwahrscheinlich). Dies gilt als ungeschriebene Regel für alle Siedler und es gibt niemanden, der dies nicht weiß. Es ist auch eine ungeschriebene Regel für die Araber, und sie wissen es auch, und sie würden auch nicht anhalten beim Anblick eines jüdischen Trampisten.

Frage:   Ist das nun eine „siedlertypische Diskriminierung“?

Da haben wir es. Hier der Gedankenansatz einer dieser Realität vollkommen fernen Weltsicht.

Erstens, es hat keine der beiden Parteien ein Interesse, sich vom jeweils anderen fahren zu lassen. So wie Juden freiwillig nicht bei Arabern einsteigen, so steigen Araber freiwillig nicht bei Juden ein, und niemand wird dabei benachteiligt oder zu etwas gezwungen. Demnach ist keine Diskriminierung vorhanden. Ob es eine „siedlertypische“ Angelegenheit ist? In Judäa und Samaria trampen fast ausschließlich nur die lokalen Einwohner – Juden und Araber. Jemand von „außen“ würde es nicht machen, zum Beispiel ein gewöhnlicher Israeli aus Jerucham (wo liegt nochmal Jerucham?). Und wenn man fragt, wieso?  – Aus Angst, und überwältigend negativer kollektiver Erfahrung.

Wieso denn Angst?, könnte man fragen. Wahrscheinlich wegen der letzten  Entführungs- und Mordfälle bzw. missglückter Attentate seitens arabischer Terroristen an Grenzübergängen und Bushaltestellen, mindestens 4 davon allein in den letzten 5 Monaten, die Entführung und Ermordung der drei Teenager Eyal, Gil-ad und Naftali im Juni 2014 nicht mit eingerechnet. Und das sind nur die letzten Zahlen – wir haben das Jahr 2015, aber die Betonblöcke vor jeder Haltestelle in Judäa und Samaria stehen schon seit Längerem, damit Wartende sich vor in die Menge rasenden Autos, Schüssen, Steinwürfen und ähnlichem schützen können. Das sind keine Übertreibungen – die Blöcke und Betonwände stehen da. Nach der Entführung der drei Jungen (von welchen lediglich einer aus Samaria stammte) und insbesondere nach der Ermordung der jungen Dalia Lemkos aus Teko’a (10.11.14) an der Bushaltestelle in  Alon Shvut (meinem Dorf) stehen an jeder Haltestelle bis Mitternacht hin bewaffnete Soldaten. Auch diese werden angegriffen (siehe 26.02.15).

Entführungen und Mordversuche also. An Bushaltestellen auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen und zum Ausgehen. Wenn man diesen Hintergrund kennt, aber auch nur wenn man ihn kennt, ist es möglich, zu erklären, dass Juden und Araber getrennte Haltestellen haben, jeder für seine Form von öffentlichem Verkehr.

Zugegeben – es erscheint seltsam, und unangenehm. Vergleiche drängen sich auf. Gut, fahrt mit verschiedenen Bussen, der eine fährt in eine arabische Stadt, der andere in eine jüdische. Aber wieso müssen die Palästinenser abseits warten, am Straßenende aussteigen und wieso hat die für Araber gedachte Haltestelle so ein vernachlässigtes Aussehen? Wenn ihr zusammen im Supermarkt einkauft, wieso trennt ihr die einen von den anderem auf der Haltestelle?

– Ich musste mir selbst eine Antwort auf diese Frage suchen, die in mir bei dem ungewohnten Anblick immer wieder aufkam. Ich teile sie mit euch:

Die palästinensische Autonomiebehörde, kurz PA, hatte entsprechend der Oslo II -Friedensabkommen von 1995 die Autorität erhalten, die Mehrheit der arabischen Städte, Dörfer und sie umgebenden Areale eigenständig zu verwalten. Die Teilung von Judäa und Samaria in Gebiete unter verschiedeneder Befugnis – unter der Verwaltung der PA, der israelischen Legislative oder einer geteilten Verwaltung-  wurde in diesen Abkommen festgelegt, und so entstanden Gebiete mit der Bezeichnung A, B und C. Um es kurz zu fassen, haben Israelis (ausgenommen israelischer Araber) keinen

Schild bei der Einfahrt nach Jericho.
Schilder bei der Einfahrt nach Jericho.

2013-08-25 15.03.17Zutritt in Gebiete A, Durchfahrtsrecht in Gebieten B und Wohnrecht in Gebieten C, das für Israelis unter fast derselben Befugnis steht wie sonstiges Staatsgebiet. Araber hingegen haben Zugang zu A und B und C, aber keinen unerlaubten Zutritt in Siedlungen der Gebiete C. Vor arabischen Wohnorten steht heutzutage zumeist ein rotes Schild, welches besagt, dass Zutritt für Israelis rechtlich verboten und lebensgefährlich ist.

Über die Verkehrsoptionen, demnach also Buslinien, Haltestellen etc. für die Bewohner dieser Orte hat die israelische Regierung keine direkte Verfügung oder Verantwortung, sie liegt allein in den Händen der PA. Nichtstaatsbürger Israels brauchen für eine Einfahrt in offizielles Staatsgebiet, so Jerusalem, ein Einreisevisum, oder eine Zutrittserlaubnis in ein jüdisches Dorf. Jüdische Israelis dürfen unerlaubt nicht nach Bet Lechem oder in einen anderen arabischen Ort fahren. Daher können beide Bevölkerungsgruppen schon einmal keine gemeinsamen Verkehrsmittel nutzen, sei es auch nur bürokratisch betrachtet. Zum Thema Angst, Mordversuche etc. siehe oben; Mordanschlag auf Sgt.Eden Atias, 19 im Bus nach Afula von einem illegal nach Israel gelangten Palästinenser siehe hier.

Auch für den Ausbau der Haltestellen, für ihre Erneuerung, sorgt sich die jeweilige Regierung. Erneuert keiner eine Haltestelle, so bleibt sie alt. Stellt keiner eine Haltestelle hin, so wird ein Trampist eben im leeren Feld oder am Straßenrand abspringen. Und ein jeder abspringende arabische Trampist stellt – der Erfahrung nach – eine potentielle Gefahr für den am selben Straßenrand wartenden Juden dar.

Hier in Judäa und Samaria weiß man das. Aus blutiger Erfahrung. Jeder weiß das, der Jude wie der Araber. Und sie alle leben damit, weil die Gesellschaft hier nun einmal von den Taten der Einzelnen bestimmt wird. Und so gewöhnt man sich daran, an bestimmter Stelle abzuspringen, wachsam zu sein, die richtigen Leute im Auto zu erkennen. Solange die Spielregeln beider Seiten eingehalten werden, „fließt alles הכל זורם“, sagt man auf Hebräisch. Und nur der sprachlose Tourist wundert sich und kämpft mit der Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität.

◊◊◊

 Ich bringe noch ein Beispiel, diesmal abseits des nationalen Konflikts: Die Rolle von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen, ihr öffentlicher Auftritt und Interaktion.

20141010_122052
Zur Illustration. Tanzende Frauen in Gush Etzion.

in den meisten jüdischen Siedlungen leben religiöse Juden. Dabei sind diese meist Vertreter der sogenannten „gestrickten Kipa“- oder nationalreligiösen Bewegung. Was bedeutet das im Klartext? Es ist eine aufs Land Israel orientierte, die Gesetze der Tora im relativen Einklang zur Moderne einhaltende Richtung des Judentums. Eine moderne Orthodoxie, welche Frauen und Männern gleichermaßen das Recht einräumt, zu arbeiten, zu lernen, bedeutende Berufe zu erlernen, sich aller Neuerungen und Erfindungen der Neuzeit ohne schlechtes Gewissen zu bedienen  – allerdings mit Maß und bestimmten Rahmenbedingungen, und natürlich gibt es immer ungeschriebene Gesetze und Normen. Die moderne Orthodoxie des Judentums, vor allem die unter Siedlern verbreitete,  kennt keine einheitlichen Kleidernormen à la der ultraorthodoxen Bewegung (man kennt sie: schwarze Anzüge, schwarze Hüte oder Pelzmützen, weiße oder schwarze Golfsocken, die Frauen mit Perücken oder ebenso dunkler langer Kleidung oder glänzenden Kleidern). Dort folgen die Menschen verschiedenen Rabbinern und Meinungen, und je nach eigener Strenge oder Nachlässigkeit tragen die Männer feste Schuhe oder Sandalen, schneiden Haare oder lassen sie wild wachsen (Schläfenlocken sind trotzdem zu erkennen); die Frauen tragen keine Perücken, sondern bunte Hüte oder Tücher, mit allem Möglichen verziert; die Ärmel sind kurz oder halblang und die Röcke können auch bis knapp ans Knie gehen. Frauen tragen auch Hosen, Tanzendeje ländlicher die Gegend, desto häufiger.

Bei den Siedlern ist dabei das Auffälligste das wilde Sammelsurium an Kleidungsstilen – oder eher seine Abwesenheit. Abendkleid mit Turnschuhen an Feiertag? Kein Problem. Schuhe aus den Siebzigern oder Ethnohemd mit schwarzem Stilrock und Flip-Flops? Auch kein Problem. Leggins und Jeansröcke sind nicht voneinander zu trennen, 3/4-Ärmel unter einem Kleidungsstück, das eigentlich im Schaufenster eine ärmellose Bluse mit tiefem Ausschnitt gewesen ist, sind Norm. Männer wie Frauen bis ins tiefe Alter lieben „Dorfsandalen“ immer derselben Firmen. Armeejacken, Fliespullis  sind sehr beliebt, und immer gibt es diese T-Shirts mit Aufdrücken von einer bestimmten Klassenfahrt, einer Armeeeinheit, einer Jugendgruppe oder irgendeiner Aktion, mit einem klugen oder lustigen Satz, Zeichnungen und Logo der Schule oder des Vereins. In allen Farben des Regenbogens. Ethno und Retro sind nie aus der Mode hier. Enge Jeans und T-Shirt tragen wagen nur wenige Mädchen aus religiösen Familien (aber auch sie gibt es).

IMG-20141112-WA0003
Zur Illustration. Mädchen bei Freiwilligenarbeit.

Warum sind aber Mädchen immer irgendwie gefragt, was „verdeckende“ Kleidung angeht? Weil die jüdische Tradition und Religion und der „gute Geschmack“ es besagen. Während in einer streng einhaltenden Umgebung bestimmte Kleidungsform vorgeschrieben wird, um züchtige Kleidung für Männer und Frauen zu gewährleisten, ist in nationalreligiösen Gemeinschaften das Vertrauen in die Eigenverantwortung des Kindes und des Erwachsenen höher. Mädchen und Jungen lernen vor allem im Elternhaus, was es heißt, seine Privatsphäre für sich zu behalten – der eigene Körper ist nicht dazu da, um ihn anderen zur Schau zu stellen. Man läuft nicht ohne Shirt auf der Straße als Junge, und niemals in Unterhemd als Mädchen. Mädchen werden behütet, und lernen, ihren Körper mit Eifer vor Blicken und Belästigungen zu schützen.

20141007_120940
Zur Illustration. Mädchen-Schulklasse.

Fragt man ein nationalreligiöses Mädchen, wieso sie sich nicht „sexy“ kleiden möchte, wird sie wahrscheinlich als Erstes antworten – „damit man mich nach meinen inneren Werten beurteilt, und nicht nach meinem Körper“. Und erst dann wird sie das jüdische Gesetz dazu zitieren. Denn das ist die Begründung, welche hinter der Vorschrift gegeben wird, und die hier weitestgehend verinnerlicht wird. Das hindert die Jugendlichen nicht daran, miteinander zu spielen, zu lachen, zu wandern, und auch mal in Gruppen auszugehen; Erwachsene arbeiten zusammen, Frauen und Männer haben gleichen Status, aber wenn es um Beisammensein geht, so teilen sie sich wie automatisch auf, und eng ist man immer mit Freundinnen als Mädchen, oder mit Freunden als Junge, und niemand käme auf die Idee, bei dem anderen Geschlecht zu übernachten etwa, auch wenn man noch zuvor zusammen beim Lagerfeuer gesessen hat.

◊◊◊

Das alles ist ein Erlebnis für mich, es lässt mich schmunzeln und manchmal auch dagegen sträuben, und nicht alles würde ich später in meiner Familie übernehmen, und von vielem anderen lerne ich und freue mich, neue Horizonte zu eröffnen.

Allzu häufig spüre ich dabei, dass mein abendländisches Gedankenkonstrukt schier zusammenbricht vor manchen Situationen, Begegnungen und neuen Erkenntnissen, und ich begreife, dass dahinter sich kein Abgrund und kein Trümmerfeld verbirgt, sondern eine andere, nicht minder nützliche, Respekt verdienende und vor allem authentische Realität.

Menschen ohne Vorkentniss und ohne des Bonus‘ der offenen Denkweise aber, die recht tief in ihren eigenen Weltvorstellungen verankert sind und sich dessen selbst vielleicht gar nicht bewusst sind – ich wuesste kaum, wie man sie aus ihrem Schock herausziehen könnte, wenn sie auf manches treffen, was Israel und speziell die Wirklichkeit in den Siedlungen ausmacht. Da kann man, so scheint mir, nur erzählen, zeigen und erzählen, und vielleicht tut die Zeit das ihre.

Manchmal tut es gut…

…einfach mal daheim zu sein.

Die Ziegenherde auf dem Weg zur Arbeit
Die Ziegenherde auf dem Weg zur Arbeit

Das Leben am Rande eines kleinen Dorfes, wo jeder jeden kennt, wo jeder miteinander spricht, wo sich nach Sonnenuntergang kaum einer auf der Straße zeigt, wo man im Schlafanzug und Pantoffeln bei den Nachbarn einen Besuch abstatten oder einfach ein Buch auf der Anhöhe lesen kann, wo man am Morgen mit einem Schrei eines Esels geweckt wird und auf dem Arbeitsweg über eine Ziegenherde stolpert – an so einem Ort hat das Leben einfach eine andere Qualität. Einen ganz persönlichen Rhytmus. Aus diesem kommt man raus, wenn man schon etwas mehr als einen Tag in einer niemals ruhenden, brodelnden Metropole wie Tel Aviv verbringt.

Und kommt man dann nach einer Tel Aviv-„Tauchfahrt“ zurück in die gemächtigen Berge Judäas, so ist man nicht nur eine ganze Berg- und Talfahrt von der westlichen Landesgrenze entfernt, sondern auch in einer ganz anderen Welt angekommen. Dort leben genau dieselben Staatsbürger unter demselben Recht und sprechen dieselbe Sprache und haben dieselben Wurzeln. Aber einander wirklich kennen – das können nur wenige von sich  behaupten. Und verstehen? Bis dahin ist es leider noch sehr weit. Insbesondere die diesjährigen Wahlen haben mir gezeigt, wie sehr sich die israelische Gesellschaft gern in „Lager“ spaltet, dann hinter dem eigenhändig  aus Prinzipien und medialer Meinungsmache errichteten Zaun dieses „Lagers“ hockt und auf die Nachbarn mit faulen Tomaten wirft.

Und ganz abgesehen von der politischen Identität der Bevölkerungsschichten Tel Avivs und Judäas – der Lebensstil, das Lebenstempo, selbst die Ausdrucksweise, die Angewohnheiten  – sie sind, ja, anders, und gegenseitig eher ausschließend als integrierend, in einem gewissen Sinne. Und weil ich mich persönlich mit einer Seite stark identifiziere, so fällt mir die reibungslose Integrierung in die Tel Aviv’sche Umgebung schwer. Die Umstellung auf Großstadt und zurück ist ein Erlebnis für sich.

Und aus Tel Aviv  in Alon Shvut angekommen, gewöhne ich mich langsam wieder an den Anblick der Karavans, an den freien Himmel, an die Stille und an den Schlafanzug-Spaziergang zum Nachbarn.

 

Wo der Rabbi tanzen geht…Das Purim-Fest

20150305_155831
Königin Esther mit Fotoapparat

Zur laut dröhnenden Musik wedeln Tiger, Prinzessinen mit Bärten, Sanitäter und Clowns wie wild mit den Armen, ein bis zu den Ohren grinsender Mexikaner wird von einem chassidischen Rabbi auf den Schultern geschwungen, langbärtige Köpfe ruhen auf dem Tisch, in süßen Traum versunken; ein wie im jiddischen Schtetl gekleideter Äthiopier umarmt verliebt die Säule im bunten, kreischenden, von Wein- und Zigarettengeruch erfülltem Raum. Frauen versuchen, ihre heranwachsenden Teenies davon abzuhalten, nach den letzten Tropfen Wein in den Flaschen zu fahnden, und überall laufen durch die Menge wilde Prinzessinen, Tiger, Soldaten, Mini-Bob-Dylans und wer nicht noch alles. In der Nachbarstraße gehen Unbeteiligte vorbei und schauen halbbelustigt, halb skeptisch auf die wilde Feier im oberen Stock. Eine bunte Pippi-Langstrumpf-Figur lehnt sich heraus, winkt den Vorbeigehenden zu, von denen manche irritiert  stehenbleiben, andere lächelnd vorbeigehen.

– Darf ich vorstellen? Das war ein kleiner literarischer Einblick ins feiernde Hebron. Die Juden von Hebron und auf der ganzen Welt feierten am letzten Donnerstag und Freitag (4./5.03.) das Purim-Fest. Was ist Purim? So viele Traditionen, Erklärungen und Motive stecken in dem fröhlichsten und frechsten Feiertag des jüdischen Kalenders, und dabei hat dieser Feiertag kaum bestimmte Verpflichtungen und besteht zumeist aus Musik, Geschenken, Verkleidungen und Trinken. Und doch hat dieser Feiertag eine tiefe Verbindung zu der Essenz der jüdischen Geschichte.


 

Lasst uns kurz auf die Geschichte des Festes schauen:

Zu der Epoche des persischen Reiches, ca. im 5.Jahrhundert vor der neuen Zeitrechnung, wurden die Bewohner des Königreichs Jehuda – Judäa, aus genau der Region, in der ich heute wohne, incl. Jerusalem – nach Babylonien vertrieben und die Orte ihrer Heimat und der Tempel in Jerusalem zerstört. Diese Juden lebten in der 127 Kleinstaaten des persischen Reiches, und einer der Könige des Reiches war ein gewisser Achashverosh, bekannt als Artaxerxes. Die Esther-Rolle, ein Bestandteil der Heiligen Schriften der jüdischen Tradition, berichtet von einem einschneidenden Ereignis der jüdischen Geschichte: Dem ersten Plan  zur „Endlösung der Judenfrage“, entwickelt von einem Minister des persischen Königs, Haman. Dieser stammte von den Erzfeinden des jüdischen Volkes, den Amalekitern, ab, und nach einer Auseinandersetzung mit einem  Anführer der ins Exil getriebenen Juden, Mordechai, holte er vom König die Erlaubnis ein, nicht nur Mordechai, sondern auch sein gesamtes Volk dem Verderben zu widmen. (Haman ist somit der erste dokumentierte Antisemit der Zeitgeschichte.)

Es ist eine mit Intrigen und seltsamen „Zufällen“ gespickte Affäre auf dem Königshof, in welchem ebenso das jüdische Mädchen Esther (Hadassa) eine Hauptrolle spielt. Eine Verwandte Mordechais, wird sie als potenzielle Braut für den König ausgewählt, der nach einem Konflikt mit der eigenen Frau diese entlässt (oder gar, nach einer anderen Version – tötet). Esther, welche ihre jüdische Herkunft auf Wunsch Mordechais nicht preisgibt, wird zur Königin erwählt. Nach der Bekanntmachung des Vernichtungsplans, welcher auf ein bestimmtes Datum angesetzt wird, schmieden Mordechai und Esther einen Plan, wie sie die Vernichtung verhindern können. Der Plan gelingt, Esther erwirkt für ihre Landsleute das Recht, sich gegen Angreifer zu verteidigen und dementsprechend das Todesurteil aufzuheben, und Haman wird für sein Vorhaben bestraft und gehenkt. Zur Erinnerung an die Massenrettung legen Esther und Mordechai fest, dass das ursprüngliche Datum der Vernichtung, an welchem sich das Schicksal gewendet hat, zu einem Tag der Freude, der Geschenke, der guten Taten und des Lachens zu machen. Und so feierten und feiern Juden die Jahrhunderte hindurch das Fest der Rettung, der Einigkeit, der Selbstaufopferung  und dem Sieg des Guten über das Böse, ganz egal, wie die Stimmung um sie herum sein mochte  – ob nun in den dunkelsten Zeiten des Exils, ob mit Kostümen, dröhnender Musik, Tanz und Wein auf offener Straße im eigenen Staat.

Die Bräuche, die das Fest begleiten, sind knapp und sozial ausgerichtet: Neben dem zweifachen Hören der Esther-Rolle abends und morgens hat man ein großes Festmahl mit vielen Gästen zu veranstalten, Freunden mindestens zwei essbare Geschenke zu bringen und ebenso an Bedürftige Essen und Geld zu spenden. Auch ist das Trinken unabdingbar – denn, so wie es im Talmud steht, „der Wein geht hinein, und heraus kommt das Geheimnis“, der Wein verwischt die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit, er befreit die tiefste Freude, die innigsten Gefühle, lässt Trauer verschwinden und verbindet. Die Tradition der Verkleidungen ist kein usprüngliches Gebot zu Purim, hat aber auch das Element des Festes drin – Verwischung von Identität, von Gut und Böse,  und das Lachen über das Unbekannte und Bedrohliche.


Zurück zu uns in Judäa und Samaria.

Purim-Marathon für Neulinge

20150305_090030
Vorlesung der Esther-Rolle im Naturpark Oz veGaon
20150305_090239
Auch die Kleinsten machen mit

Den Feiertag feiert man in jeder Stadt ein wenig anders, und natürlich hat das in den Siedlungen sein ganz persönliches Flair. Am Abend und am Morgen rennen die Menschen, vor allem die mit den Kindern beschäftigten Frauen (alle Kinder müssen ja geschminkt und geschmückt werden…) den Vorlesungen der Esther-Rolle hinterher, denn es ist ein Pflichtgebot, sie von einer Pergamentrolle vorgelesen zu hören. Meistens gibt es Lesungen in der Synagoge, aber alle beide habe ich persönlich verpasst, und daher waren wir am Abend noch mit Bekannten in das benachbarte Neve Daniel um 11 Uhr gedüst, um dann in einer Gemeinschaft von ebensolchen „Zuspätkommern“, natürlich verkleidet, in einem Haus eines großen bärtigen Mannes die Rolle vorgelesen zu bekommen. Wenn der Name des bösen Haman fiel, wenn man traditionell pfeift, klopft und andersweitig seine „Verabscheuung“ ausdrückt, quäckte der Hausherr mit seltsamer Stimme von der Haustreppe. Einige meiner Bekannten öffneten schon am Abend die Wodkaflasche, und in der Karavansiedlung lief irgendwo Musik, ansonsten war alles ruhig. Am Morgen war es an der Zeit, endlich, endlich die Nachbarschaft zu durchkreuzen nach den Freunden und Nachbarn, denen ich dieses Jahr ein Geschenk vorbereitet hatte.

20150305_133458
Kostümierte Familie aus Peru/Israel
20150305_140249
Alles in den Augen des Betrachters…

Wie erwähnt, ist es ein Gebot, mindestens zwei essbare Produkte an einen Bekannten zu schicken, und mindestens zwei essbare Produkte oder Geld an mindestens zwei bedürftige Menschen. Solche Pakete werden in bunte Tüten verpackt, irgendeiner steckt ein traditionelles Mini-Fläschchen Wein hinzu, es gibt Süßigkeiten und bei manchen auch was Gesundes, und dann geht es darum, die Sachen „an den Mann“  zu bringen, bevor die Sonne sich setzt. Jedes Jahr macht man in meiner Siedlung eine Lotterie, und jeder bekommt eine oder zwei Familien zugewiesen, denen man etwas schenken soll – so auch dieses Jahr. Vor allem für einen Neuling wie mich ist das natürlich sehr kostbar, von meinen mir noch wenig bekannten Nachbarn etwas zu bekommen, mit einem netten Zettel versehen, ebenso wie nachzudenken, was ich denn „meinen Familien“ in die Tüten legen soll.

Durch Alon Shvut sollte eine Maskarade-Prozession gehen, die hatte ich allerdings verpasst. Wer die Karnevalsumzüge aus Deutschland kennt – das ist etwas Ähnliches, und meine Version ist, dass der Brauch mit den deutschen Juden und ihrer Karnevals-Gewohnheit nach Israel importiert worden ist….aber ich habe mir es noch nicht bestätigen lassen.

Ein ganz persönlicher "Karnevalsumzug"...mit dröhnender Musik durch Alon Shvut
Ein ganz persönlicher „Karnevalsumzug“…mit dröhnender Musik durch Alon Shvut

Da ich noch an die wandelnden und laut feiernden Massen von Jerusalem gewöhnt war,  war mir hier es etwas zu still, obwohl in den verschiedenen Häusern Familien gemeinsam feierten. Ein Rabbiner sammelte bei sich die Geschenke für die Bedürftigen, welche er dann in eine Synagoge brachte und den Bedürftigen verteilte. Gut, dass es diese Möglichkeit gab; ich wüßte eindeutig nicht, wer bei uns in der Siedlung wohl bedürftig ist.

Das Fest von Hebron

20150305_143550
An der Haltestelle von Alon Shvut

Am Nachmittag fuhr mit einer Freundin nach Hebron, dort habe ich eine Bekannte, die mir eine Feier versprochen hatte.  Auf den Haltestellen standen bunte Leute und winkten mir zu.

FB_IMG_1425638751611
Pippi Langstrumpf an der Haltestelle Richtung Hebron. Die Betonpfähle sind dafür da, damit Terroristen die Wartenden nicht überfahren.

Im jüdisch-arabischen Teil von Hebron saß fast die ganze Gemeinde der jüdischen Viertel Avraham Avinu und Tel Rumeida in einem Saal voller recht betrunkener, fröhlich tanzender Menschen, und es gab dröhnende Musik, Essen und Wein. (Ich habe noch kein Wort über die jüdische Gemeinschaft in Hebron verloren, ihre Geschichte, von alt bis zu modern, ist unglaublich spannend, teilweise tragisch und hart, und auch nicht leicht zu verstehen – darüber in eine anderen Beitrag.) Der Saal lag ganz nah am Grab der Patriarchen, einem massiven, herodianisch-osmanischen Gebäude, unter welchem die Gräber der Ahnen des jüdischen Volkes – Avraham, Yitzhak, Ya’akov, und ihre Frauen Sarah, Rivka und Leah – liegen. Die Araber Hebrons, auf der Straße neben der Festhalle, schauten staunend zu der Musik aus den Fenstern hoch und zu mir, die ihnen aus dem offenen Fenster zuwinkte.

20150305_160316

Seltsame Treffen

Anschließend machen wir einen Spaziergang durch die Gassen des Teiles von Hebron, welcher uns als israelischen Staatsbürgern zu betreten erlaubt worden war – von unserer eigenen Regierung. Unterwegs wurde ich von einem Anfall von Übermut erfasst und beschloss, meine restlichen Süßigkeiten an die arabischen Kinder zu verteilen. Dank der Aufmerksamkeit, die mir mein buntes Auftreten sicherte, kam ich in Augenkontakt mit vielen arabischen Fußgängern, und manche konnten sich ein Lächeln abgewinnen, andere grüßte ich zuerst. Ich war in Hochstimmung. Soldaten in Shorts und T-Shirts joggten an mir vorbei und riefen etwas von wegen „täglicher Sport“ zu – wie konnten sie so einfach ohne Waffe herumrennen, fragte ich mich, und dann auch sie, als ich später auf sie traf. „Ja, zu Beginn machte es schon Angst, aber dann gewöhnt man sich daran“, erwiderte einer von ihnen lachend.

Die Kinder, denen ich die Süßigkeiten anbot, reagierten recht ambivalent. Zwei kleine Jungs hinter einem Haustor verneinten erst zurückhaltend, aber dann konnten sie nicht widerstehen und lächelten schließlich auch. Eine andere kleine Gruppe hatte zwei sehr dominante 6- oder 7-jährige Mädchen bei sich. Mein ehemaliges Arabisch hatte sich leider komplett verflüchtigt, und die Mädels bestanden darauf, dass ihre jüngeren Brüder ja nichts nahmen. Angst vor Fremden? Abscheu für die „Feinde“? Es konnte alles sein. Einer von den Jungs gab mir einen Keks, und als er schon auf einen „Austausch“ eingehen wollte, zerrte ihn die ältere Schwester oder Cousine zurück. Friedensverhandlung gescheitert? Die Mädchen hatten aber keine Skrupel, an meiner Perücke zu zupfen und zu fragen, ob sie echt sei. So lernten sie von mir auch das Wort „Sse’ar“  – Haare – welches ich ihnen aus Mangel an Arabisch auf Hebräisch zu vermitteln suchte.

Ein jüdischer Junge schaut aus einem Fenster in Hebron
Ein jüdischer Junge schaut aus einem Fenster in Hebron

In der Gasse mit den jüdischen Häusern war nicht viel los. In diesem Teil Hebrons leben Juden und Araber wie einst, vor dem fatalen Pogrom 1929, nebeneinander. Die Feindschaft ist allerdings sichtlich zu spüren. Eine vorbeifahrende junge Frau fragte mich, warum ich den Kindern die Süßigkeiten verteile. „Warum nicht?“, bemerkte ich. „Gut, wenn du meinst…“, antwortete sie und fuhr davon.

Wir plauderten noch mit ein paar Soldaten der Golani-Brigade, die momentan in Hebron stationiert sind, um für Recht und Ordnung im gemischten Stadtviertel zu sorgen. Und dann sahen wir sie – drei Männer mittleren Alters, mit den „Palitüchern“ in Kafiyya-Muster. Sie grüßten die arabischen Kindern und gingen dann in Richtung des Grenzübergangs, der den gemischten vom rein arabischen Stadtteil trennt. Meine Freundin und ich gingen ebenso hin. Obwohl sie nicht einverstanden gewesen war, sprach ich die Männer an – ich war mir sicher, sie waren Europäer. Tatsächlich – zwei erwiesen sich als Engländer und der dritte Mann war deutsch.

Was sie denn so machten, und wie lang sie in Hebron seien, sprach ich ihn auf Deutsch an. Er war sichtlich überrascht, aber erzählte mir, sie seien ein paar Tage da, und von einer christlichen Organisation namens Irgendwas geschickt worden (sie trugen gar ihre Jacketts). Ob sie auch im jüdischen Teil gewesen seien, und das Fest mitbekommen haben, fragte ich. Ja, meinten sie, es gäbe da ein Fest und Musik. Was sie denn machten in Hebron, fragte ich. Sie würden morgens und nachmittags so um den Grenzübergang sein und auf der Straße, denn ich wisse ja, es gäbe hier viele Kinder, und sie würden dafür sorgen, dass die Kinder sicher zur Schule kämen, weil, ich wisse ja, die Soldaten prüften ja die Taschen von den Kindern nach. Aha. Nette Leitlinie. Wüssten sie denn nicht, dass man in Schultaschen auch gefährliche Dinge hineinlegen kann, fragte ich möglichst freundlich nach. Aber das seien doch Kinder, erwiderte mir der Deutsche mit demselben sehr freundlichen Lächeln. Gerade in Taschen von Kindern könnte man aber gefährliche Dinge schmuggeln, bestand ich darauf. Bevor ich unsere „sehr freundliche“ Diskussion weiterverfolgen konnte, rief mich plötzlich ein Offizier zur Seite.

„Warum redest du mit ihnen?“, fragte er mich und klang irgendwie verbittert. „Ich versuche herauszufinden, was sie hier machen, obwohl es mir schon recht klar ist“, antwortete ich ihm. „Rede nicht mit ihnen, lass sie, ich will nicht, dass ihr mit ihnen redet.“ „Wieso nicht? Ich rede mit ihm auf Deutsch, und ich provoziere auch nicht“, rechtfertigte ich mich, aber er blieb auf Seinem. „Wir reden nicht mit ihnen hier. Meinst du, du kannst ihnen etwas erklären, sie von etwas abbringen oder überzeugen? Weißt du, was die machen? Sie kommen jeden Morgen und stehen hier, und bedrängen uns, und grüßen jedes einzelne arabische Kind, und wenn ein jüdisches vorbeikommt, schauen es es nicht einmal an, und sie behindern unsere Arbeit. Sie holen hierher Leute und organisieren Demonstrationen. Wenn ich könnte, würde ich diesen Arschlöchern, und vor allem dem da (er nickte in die Richtung des Deutschen) eine Kugel in den Kopf schießen, aber ich darf es nicht.“ Ein Soldat auf einer Wachtreppe über uns stimmte dem Offizier zu. Ich kannte diese Situation schon von früher, aus meiner Dienstzeit in der Armee; damals hatten mir Soldaten an derselben Stelle von den Aktionen der linken europäischen Aktivisten erzählt. „Ich verstehe dich“, erwiderte ich dem jungen Offizier, „ich würde es auch tun wollen. Ich spreche aber nur mit ihm!“ „Ja, ich weiß, du machst nichts Verwerfliches, aber ich möchte trotzdem lieber nicht, dass Juden mit denen sprechen, es bringt nichts.“

Wir verabschiedeten uns und gingen. Die Sonne setzte sich langsam. Wir diskutierten über den Vorfall, besuchten das Grab der Patriarchen kurz, aber dann trennten sich unsere Wege. Ich fuhr nach Hause, und zum wiederholten Male hatte ich das Gefühl, ich würde diese Stadt und ihr Innenleben nicht in der Lage sein, adequat zu erfassen, und fühlte eine Anspannung auf mir lasten, als würde ich innerlich eingezwängt werden. Ich verstand Hebron noch immer nicht, und eines Tages würde es an der Zeit werden, mich auch in diese komplizierte Materie hineinzufühlen. Mit diesen und anderen Gedanken fuhr ich per Anhalter heim nach Gush Etzion und es erschien mir plötzlich so gewohnt, heimisch und leicht.

Neue Woche, neues Glück

Neue Woche, neuer sonniger Tag in Judäa. Die Katze genießt die Sonnenstrahlen – Vitamin D und frische Luft hat ihr wohl im kleinen Karavan sehr gefehlt. Sie nutzt jede Gelegenheit, um aus dem Zimmer auf die Straße zu flüchten. Einmal dran gewöhnt, rauszugehen, lässt sie es sich nicht nehmen.

Ich breche auf nach Jerusalem – heute wird Möbel geliefert, ein wahrer Feiertag.
Nach Jerusalem fahre ich natürlich per Anhalter, schnell, praktisch, kostenlos.
Aber es gibt fast immer eine ‚Warteschlange‘. Leute, die dasselbe vorhaben und schon früher dagewesen sind, und du weißt nicht, wohin sie genau wollen (aber höchstwahrscheinlich nach Jerusalem).
Und die anderen, die vor dir mit den Armen wedeln und eifrig nach links oder rechts zeigen, weil sie ins benachbarte Efrat o.ä. wollen, sodass der Autofahrer mich dahinter gar nicht sieht und dann einfach an mit vorbeifahren kann. Das nervt….
Und die sich immer wiederholende Unsicherheit, wenn ein Autofahrer anhält und mitnehmen will, und sich auch noch beeilt, und du stehst ratlos und weißt nicht, wer denn hier als Erster war und wem die Reise vor dir gebührt. Und zu allem Verdruss bist du auch noch in Eile.
Klar, jeder weiß im Aus- und Inland, dass Israelis Meister im Vordrängeln sind. Aber sich beim Trampen vorzudrängeln gilt als ausgesprochen frech. Und der Autofahrer eilt uns, „yalla, ich muss fahren“, und wenn man Glück hat, gibt es einige freie Plätze und nicht alle müssen zum selben Ort.

Im Auto kriege ich dann meine Portion Nachrichten der Radiostation „Kol Israel/Stimme Israels“ mit ihren Radiosprechern mit dem offiziell-altertümlichen hebräischen Akzent, und ein paar Lieder der Station „Reshet Gimel“, oder irgendeine CD mit einem romantisch klingenden jungen Mann aus der religiösen Musikszene, der zur Gitarre oder Klavier und neuem Arrangement Texte aus den heiligen Schriften singt. Kurzum, kleine Kulturreise bis zum Reiseziel.

Und das Beste ist immernoch die Sonne……!

Von Unabhängigkeit und Einsamkeit

Ein bissel philosophisch heute. Wozu so ein Karavanleben anregen kann…


 

Der Preis der Unabhängigkeit ist zu einem großen Anteil gewiss die Einsamkeit.

Wir sehen es überall in der Gesellschaft aufsteigen, die metaphorischen Kosten steigen und werden gar nicht mehr so metaphorisch, sondern nah und greifbar, und es bleibt nicht dabei. Einsamkeit ist eins der am Deutlichsten hervortretenden Phänomene der sozialen Welt in den letzten hundert Jahren. Wir sehen es an der Einsamkeit, welche Partnerschaft, Ehe und Familie durchdringt, sobald deren Gefüge sich lockern und ihre Mitglieder den Weg der persönlichen Unabhängigkeit vom jeweils anderen gehen wollen. Wir sehen es an der Kultur der sozialen Netzwerke, welche genau das, was sie propagandieren – Unabhängigkeit, Individualisierung – durch ihren Massenvertrieb verhindern, und das bindende Netz für diejenigen darstellen, die sich ein soziales Gefüge ohne Virtualität nicht mehr vorstellen können. Ist jemand außerhalb dieses Gefüges, ist er aus der Abhängigkeit davon heraus, nicht aber weg von den Konsequenzen – seine Nonkonformität trennt ihn vom gesellschaftlichen Rhythmus.

Ich sehe es auch an der Einsamkeit meines Staates, Israel, der, seit der erlangten Unabhängigkeit und dem gesellschaftlichen Drang nach der Erhaltung der eigenen Kultur, Ideologie und Wertesystemes immer mehr in die Isolation gerät.

Und ungleich der zur Schau gestellten Individualisierung der westlichen Kultur, durch Kleidung, Musikrichtung oder sexuelle Neigung, welche von mutigem Alleingängertum längst in Markenverhalten mutiert ist – derjenige, der einen wirklich anderen fremden, unabhängigen und nicht konformen Lebensstil kultiviert, ist tatsächlich einsam.

Einsamkeit, sie habe ich zum ersten Mal in Israel kennengelernt. Seltsam, das Land, in welchem ich am Herzlichsten willkommen geheißen und tausend- wenn nicht zehntausendfach geholfen und gestützt worden bin, hat mich an die Höhepunkte dieses Gefühls kommen lassen. Und ich wage zu behaupten, dass es weniger am Land und seinen Leuten liegt, zumindest kann ich nicht sagen, dass sie sich es haben zu Schulden kommen lassen.

Nein, es ist der starke Kontrast zwischen einer familienorientierten, sehr zusammengewachsenen und miteinander verflochtenen Gesellschaft, die sich und ihre Kinder mit einer sozialen Schutzhülle gegen emotionale Aufpralle umgibt, und einem Menschen aus einer sehr auf das eigene Ich bezogenen Kultur. Die deutsche Kultur und Mentalität, so wie ich sie in mehr als einem Jahrzehnt am eigenen Fleisch kennenlernen durfte, setzt ihre sozialen Maßstabe nicht nach Werten der Zusammengehörigkeit, der Hilfsbereitschaft, und der Innigkeit der familiären und freundschaftlichen Bande. Etwas, was in Israel großgeschrieben wird. Und ist man selbst kein Teil davon, und hat kein eigenes großes Netzwerk aus Familie und Freunden, Kollegen, ehemaligen Armeekameraden, Jugendleitern und Schützlingen  – aus welchen Gründen auch immer – dann kriegt man seine Andersartigkeit zu spüren. Nicht, dass jemand etwa darauf schadenfreudig hinweist. Nein, aber du merkst mit einem Mal, wie viel Zeit deine Nachbarn und Bekannten mit ihrer Familie verbringen, wie viel Energie und Kreativität sie in ihre Freiwilligenarbeiten, ihre Hobby-Gruppen und Kinderfeste  stecken.

Insbesondere macht sich das bemerkbar,  wenn man in einer sehr stark davon geprägten Gemeinde lebt wie der der Israelis in den jüdischen Siedlungen. Das sind dann meistens immer junge Paare in ihren Zwanzigern, alle mindestens mit einem Kind versehen, ihre Jugend schon lange hinter sich, ihre Singlephase auch schon, wenn überhaupt gehabt. Ein Karavan mag auch noch so eng sein, aber wenn du allein in einem lebst, ist er dir nie voll zu kriegen, und die Einsamkeit gähnt dich aus jeder leeren Ecke an, und mault dir missgelaunt zu, dass das Abenteuer Siedler, und das Abenteuer Karavan nichts für Alleinstehende ist. Wieso gehst du nicht zurück in die Großstadt?, scheint sie gelangweilt und lustlos zu fragen. Es gibt zu viele Herausforderungen des Alltags, als dass der „Kick“ des Abenteuers es wert wäre, diese tagtäglich allein zu meistern, und noch und noch einen Tag zu überwinden.

Vielleicht ist es auch der Grund, weshalb in solchen kleinen „Exklaven“, weit weg vom pulsierenden und alles in sich integrierendem Stadtleben, auch Alleinstehende nicht gerne gesehen werden. Weil sie den sozialen Rhythmus des Ortes, das dicht geflochtene Netz, auflockern, zerbröseln könnten, ohne sich selbst wiederzufinden. Weil Alleinstehende generell ein anderes Leben führen als Familien. Weil Familien Systeme sind, die auf Abhängigkeit beruhen, und jemand, der alleine ist, meistens genau das vermeiden möchte. Auch solche Dörfer, solche eng miteinander verwobenen Gemeinschaften, basieren auf Abhängigkeit, auch wenn jedes Mitglied einer solchen „Wabe“ an und für sich ein selbstständiges Leben führt. Das ist auch etwas, was neben all den ideologischen, sicherheitstechnischen und anderen Bedenken die Juden in Israel und im Ausland zu einem Leben in Siedlungen hinzieht oder von einem abschreckt. Ein meines Erachtens nicht zu ignorierender Aspekt.

Über die Einsamkeit eines alleinstehenden Menschen in der Gesellschaft schrieb Rabbiner Joseph B.Soloveitchik in seinem Werk „Tradition. The Community“ (S.12-13):

Die Originalität und Kreativität des Menschen sind in der Erfahrung seiner Einsamkeit verwurzelt, und nicht in seiner sozialen Bewusstsein (…). Der soziale Mensch ist oberflächlich: er ahmt nach. Der einsame Mensch ist tiefgründig: er schafft, er ist einzigartig.Der einsame Mensch ist frei; der soziale hingegen ist gebunden an Regeln und Auflagen. Gott wollte den Menschen frei sein lassen. Ein Mensch muss hin und dort der Welt Paroli bieten können, das Alte und unnütz Werdende mit dem Neuen und Relevanten ersetzen. Nur ein einsamer Mensch ist fähig, das Zaumzeug, das ihn an die Gesellschaft bindet, abzuwerfen.