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Neues Jahr 5779 – neue Anfänge

Liebe Freunde und Follower,

das Neue Jahr (Rosh Hashana 5779) steht schon ganz vor der Tür und will auch hinein, und ich bin Gott sei Dank wohlauf daheim in Israel und in Gush Etzion angekommen, voller neuer Erfahrungen und willkommener Erinnerungen an die Gastfreundschaft all meiner GastgeberInnen während dieser spannenden (und meiner ersten!) Vortragsreise im Rahmen meines Blogs DieSiedlerin.net.

Ich habe mich überaus gefreut, viele wunderbare neue Menschen kennenzulernen, und werde dies mit Freuden in das nächste Jahr mit hineinnehmen. Ich hoffe sehr, dass das nächste Jahr uns Frieden und Gesundheit und Zufriedenheit bringt, viel Kraft für neue Ideen und Pläne und Inspiration für gute Taten!

Shana tova, mögen wir alle ins Buch des Lebens eingeschrieben werden!

In Freundschaft,
Chaya

Frühling ist da, Pessach ist da*

Nach anstrengenden, erschoepfenden, aber ergiebigen Wochen ist das Weltreinigen zum Ende gekommen. Der Feiertag Pessach, der die nationale Geburt des juedischen Volkes, den Auszug aus der (selbstverschuldeten?) Unmuendigkeit hinaus in die Freiheit, ins eigene Land und mit eigenem Schicksal symbolisiert, steht vor der Tuer. Den Namen des Festtages sowie die Tradition des „Fruehlingsputzes“ haben andere Religionen und Gesellschaften uebernommen; doch die einzigartige Freiheitsbotschaft und „Geburt“ einer neuen Realitaet in dieser Welt – der der Gottesnaehe, der direkten Leitung von Schoepfer zu Menschheit durch die Gesetze und Anweisungen fuer das „hauseigene“ Volk, besitzt keine von ihnen. Denn nebst allen Assoziationen von Erneuerung, Befreiung und Hoffnung hat das juedische Pessach-Fest eine direkte Botschaft an den Juden, der dies zu begehen und zu feiern angewiesen ist:

„Jeder Mensch soll sich sehen, als sei er persoenlich aus Aegypten gezogen“ (Talmud)

Das bedeutet, dass fuer Juden und Juedinnen auf der ganzen Welt, zur selben Zeit, dieser Tag einen Neubeginn des Zyklus bedeutet, welcher ihr Sein ausmacht – ihre Religion, Zugehoerigkeit, Aufgabe in dieser Welt. Hier ist der Anfang. Hier der Ursprung. Von hier haben wir angefangen, alle gemeinsam zu gehen, und wir halten noch immer an denselben Haenden, sind die Glieder einer immer laenger werdenden Kette. Und wir glauben noch immer an dieselben Ideale, sie haben uns herausgebracht in die Freiheit, uns den Weg gefuehrt bis heute – wir bleiben ihnen treu.
Auch die Gebote fuer dieses Fest angeht, welches seinen Beginn in einem eiligen Mahl mitten in der Nacht, unter der staendigen Furcht vor der Reaktion der Aegypter, im Angesicht der Schrecken, die deren Land fuellten, und in der Aussicht auf eine Befreiung aus der unertraeglichen Sklaverei hinaus in ein Unbekanntes –  mit einer brennenden Hoffnung auf endlich einem Lichtstrahl in der jahrhunderte waehrenden Dunkelnheit -, gesehen hat, deuten auf das oben Genannte. Pessach ist ein Familienfest. Rund um den Globus, religioes oder ganz in einer anderen Welt, versammeln sich diejenigen, die sich als Teil des juedischen Volkes sehen, zusammen mit der Familie und erzaehlen von „damals“ – von Sklaverei, Befreiung, Gott, Neuanfang. Es bindet alle zusammen. Das hastige Mahl, „mit den Guerteln um die Hueften gebunden und dem Wanderstab in der Hand“, wie es in der Tora heisst, mit einem unfertigen Brot, woraus spaeter das alljaehrige Mazze- Brot wurde (wer kann sich angesichts der heutigen stylischen Kraecker daran erinnern?), wurde fuer Generationen verewigt – als Auftrag, nicht als Erinnerung. „Jeder Mensch soll sich sehen, als sei er aus Aegypten gezogen“. Auszug aus Aegypten ist kein einmaliges historisches Ereignis und damit hat es sich; Auszug aus Aegypten ist eine Berufung. Denn wir sind verpflichtet, die Lektionen daraus tagtaeglich aufzugreifen und zu verwirklichen. Freiheit zu bekommen, heisst Verantwortung zu uebernehmen. Verantwortung ist lebenslange Verpflichtung. Und genau das feiern wir. Den Preis der Freiheit, der unserem Leben als Juden, als Menschen einen Sinn gibt.


Nach diesen wenigen Worten zum Feiertag moechte ich euch kurz zeigen, wie die letzten Vorbereitungen bei uns in der Siedlung ausgesehen haben. Ausser dem Pessach-Putz, bei dem alles ungefaehr auf den Kopf gestellt wird, um es nicht nur von gesaeuerten Kruemeln, sondern ueberhaupt von jedem organischen Material zu befreien, gibt es noch einige religionsbedingte Aufgaben, die man erfuellen muss. Das macht man bei uns, weil wir ja eine kleine Gemeinschaft bilden, alle zusammen, auf dem Hauptplatz im Ort.

Das Eintauchen des Geschirrs, Alon Shevut, 2016
Das Eintauchen des Geschirrs, Alon Shevut, 2016

20160421_182820Das Metall- und Glasgeschirr (Toepfe, Besteck, Tassen, Teller etc) muss vor Pessach nach gruendlicher Saeuberung in kochendes Wasser eingetaucht werden, damit es jeden Geschmack des Gesaeuerten herausbekommen kann. Gasherd-Platten und Ofengitter werden mit einem Bunsenbrenner durch den Hardcore-Prozess gefuehrt. Bei uns haben es drei grosse, rüstige junge Maenner uebernommen, die an einem grossen Tisch neben grossen Wasserkesseln mit Eisenstangen standen und jedes Geschirr entgegennahmen. Eingetaucht haben sie es in einem hitzefesten Plastikkorb.

Alon Shevut
Alon Shevut

Auf demselben Platz wurde auch eine „Gesaeuertes-Messe“ durchgefuehrt – allerhand Brot, Chips, Falafel, Getreidewaren wurden von Kindern zum Billigpreis verkauft; Kinder und Eltern fuellten den Platz und wohin man sah, jeder kaute irgendwas. Kinder-DJs spielten froehliche Musik.20160421_183349 20160421_183440

Am Tag danach, ab einer bestimmten Uhrzeit, ist es von der Tora verboten, Gesaeuertes zu essen oder ueberhaupt im Haus zu haben. Die Ueberreste werden verkauft (an Nichtjuden, und dann zurueckgekauft, kompliziert, erklaere ich nicht 🙂 ) oder weggeschmissen/verbrannt. Verkaufen oder weggeben ist 20160422_114753natuerlich die bessere Option, obwohl das Gesaeuerte schon jahrhundertelang dieses Schicksal ereilt, und daher braucht man sich nicht darueber aufzuregen. Ich habe beschlossen, die meisten meiner „nichtkoscheren“ Produkte an benachbarte arabische Familien abzugeben; diese Initiative wurde von den Aktivisten des lokalen „Shorashim/Roots“-Friedensprojekts (hier wird darüber erzählt) vorgeschlagen, und einige haben sich dieser Option angeschlossen (andere reagierten darauf ablehnend).

Und nach dem Ganzen – den Reinigungen, den Geboten – macht mam sich fertig zum Fest, raeumt alles wieder ins nagelneue Haus ein und wartet auf die „Sedernacht“ (woertlich – Nacht mit einer bestimmten Ordnung).

Ganz entsprechend der Tradition und den eigentlichen Umstaenden bin ich den ganzen Tag und insbesondere diesen Abend „in Eile“, weil ich erneut zuspaet gewesen (wer mich kennt…). Statt ruhigen Feiertags- und Shabbatbeginns musste ich hin und her fahren und rennen, um ueberhaupt zu irgendjemandem an diesem Tag zum Abendessen anwesend zu sein. Zum Glueck gibt es Taxis. Urspruenglich war zwar Samaria bei mir geplant…..aber man weiss nie, wo man ankommt, wenn man einmal aus Aegypten zieht…am Ende bin ich doch noch daheim.

Hag Sameach ve Kasher!!

*Die Überschrift stammt aus einem bekannten Kinderlied, kann man hier nachhören:

In eigener Sache: Zwischendurch

Hallo alle,

In letzter Zeit ist es recht still um mich geworden; das kommt daher, dass ich gerade erst die Examensphase hinter mir habe und mich gleich darauf in den traditionellen Pessach-Putz stuerzen durfte. Es waren einige Dinge in der Zwischenzeit geschehen, die ich gerne erwaehnt haette, aber die Muedigkeit und der Zeitmangel zwischen Lernen, Putz und Arbeit taten das ihre und daher komme ich momentan wenig zum Schreiben.

Unterdessen hat mich eine wunderbare Gruppe von Journalisten aus Deutschland unter der Reiseleitung von Albrecht Löhrbacher besucht (es war an Shabbat, daher keine Fotos), einige Spenden großzuegiger Menschen erreicht (J.W, 20€, S.L. 200€ !!) , und ich plane die naechsten Artikel ueber einen Teil unserer Gebiete, ueber den ihr noch wenig von mir gehoert habt – Samaria. Auch dieses Landstueck hat eine lange und spannende Geschichte hinter sich und kommt auch heute nicht zur Ruhe – in jedem Sinne. Die Pessach-Feiertage, an denen alle Welt in Israel wandert und umherreist und tausende Unterhaltungsmoeglichkeiten geboten werden, plane ich, dazu zu nutzen, um mehr ueber Samaria zu erzaehlen.

Frohes Fest an alle Feiernden also, wuenscht mir Ausdauer beim Putzen und ihr werdet auch weiter von mir hoeren, nur Geduld!
🙂

Das Wasserschöpffest

Und wieder ist Feierlaune in Gush Etzion. Momentan haben die Sukkot-(Laubhüttenfest)Ferien begonnen, Familien mit Kindern und Jugendliche wandern im ganzen Land umher, vergnügen sich, erleben Land und Leute, tanzen, singen und vieles mehr.

Das Wasserschöpffest mit vielen Attraktionen für Kinder, Musik, Tanz und Essen wird im Gedenken an dasselbe Fest zur Zeit des Tempels gefeiert, während der Sukkotfeiertage, weil an diesen laut der jüdischen Religion die Menge des Wassers gerichtet wird, die über die Welt und über das Ladn Israel niedergehen wird. Es war in den alten Zeiten ein Fest voller unglaublicher Freude, wo alle Bewohner Jerusalems und auch landesweit sich versammelten, um gemeinsam Kunststücke und Musiker zu sehen und den Tempel zu bestaunen. Mehr dazu kann man hier lesen.

Yehoshu'a und ich am Verkaufsstand
Yehoshu’a und ich am Verkaufsstand

Heute wird das Fest in den jüdischen Gemeinden auch ohne Tempel begangen, in seinen Ausmaßen sicherlich nicht mit den Tagen von damals zu vergleichen – und dennoch ist es ein Grund zum Feiern und Tanzen für Juden. Dazu muss man gar nicht gläubig sein, bei der Musik schwingen alle Beine mit.

Hier einige exklusive Einblicke von Musik und Tanz vom traditionellen „Wasserschöpffest“ im Naturpark Oz veGaon, im Herzen Gush Etzions, Judäa, organisiert von dem Verein „Frauen in Grün“.

20150929_102836Mehrere hundert Besucher kamen in Oz veGaon vorbei, ebenso der Minister für Jerusalem und Tradition, Ze’ev Elkin, der Vorsitzende der Bezirksverwaltung Davidi Perl und die Eltern eines der entführten Jungen, Eyal Yifrach, die ebenso von der Veranstaltung begeistert waren.

Wo der Rabbi tanzen geht…Das Purim-Fest

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Königin Esther mit Fotoapparat

Zur laut dröhnenden Musik wedeln Tiger, Prinzessinen mit Bärten, Sanitäter und Clowns wie wild mit den Armen, ein bis zu den Ohren grinsender Mexikaner wird von einem chassidischen Rabbi auf den Schultern geschwungen, langbärtige Köpfe ruhen auf dem Tisch, in süßen Traum versunken; ein wie im jiddischen Schtetl gekleideter Äthiopier umarmt verliebt die Säule im bunten, kreischenden, von Wein- und Zigarettengeruch erfülltem Raum. Frauen versuchen, ihre heranwachsenden Teenies davon abzuhalten, nach den letzten Tropfen Wein in den Flaschen zu fahnden, und überall laufen durch die Menge wilde Prinzessinen, Tiger, Soldaten, Mini-Bob-Dylans und wer nicht noch alles. In der Nachbarstraße gehen Unbeteiligte vorbei und schauen halbbelustigt, halb skeptisch auf die wilde Feier im oberen Stock. Eine bunte Pippi-Langstrumpf-Figur lehnt sich heraus, winkt den Vorbeigehenden zu, von denen manche irritiert  stehenbleiben, andere lächelnd vorbeigehen.

– Darf ich vorstellen? Das war ein kleiner literarischer Einblick ins feiernde Hebron. Die Juden von Hebron und auf der ganzen Welt feierten am letzten Donnerstag und Freitag (4./5.03.) das Purim-Fest. Was ist Purim? So viele Traditionen, Erklärungen und Motive stecken in dem fröhlichsten und frechsten Feiertag des jüdischen Kalenders, und dabei hat dieser Feiertag kaum bestimmte Verpflichtungen und besteht zumeist aus Musik, Geschenken, Verkleidungen und Trinken. Und doch hat dieser Feiertag eine tiefe Verbindung zu der Essenz der jüdischen Geschichte.


 

Lasst uns kurz auf die Geschichte des Festes schauen:

Zu der Epoche des persischen Reiches, ca. im 5.Jahrhundert vor der neuen Zeitrechnung, wurden die Bewohner des Königreichs Jehuda – Judäa, aus genau der Region, in der ich heute wohne, incl. Jerusalem – nach Babylonien vertrieben und die Orte ihrer Heimat und der Tempel in Jerusalem zerstört. Diese Juden lebten in der 127 Kleinstaaten des persischen Reiches, und einer der Könige des Reiches war ein gewisser Achashverosh, bekannt als Artaxerxes. Die Esther-Rolle, ein Bestandteil der Heiligen Schriften der jüdischen Tradition, berichtet von einem einschneidenden Ereignis der jüdischen Geschichte: Dem ersten Plan  zur „Endlösung der Judenfrage“, entwickelt von einem Minister des persischen Königs, Haman. Dieser stammte von den Erzfeinden des jüdischen Volkes, den Amalekitern, ab, und nach einer Auseinandersetzung mit einem  Anführer der ins Exil getriebenen Juden, Mordechai, holte er vom König die Erlaubnis ein, nicht nur Mordechai, sondern auch sein gesamtes Volk dem Verderben zu widmen. (Haman ist somit der erste dokumentierte Antisemit der Zeitgeschichte.)

Es ist eine mit Intrigen und seltsamen „Zufällen“ gespickte Affäre auf dem Königshof, in welchem ebenso das jüdische Mädchen Esther (Hadassa) eine Hauptrolle spielt. Eine Verwandte Mordechais, wird sie als potenzielle Braut für den König ausgewählt, der nach einem Konflikt mit der eigenen Frau diese entlässt (oder gar, nach einer anderen Version – tötet). Esther, welche ihre jüdische Herkunft auf Wunsch Mordechais nicht preisgibt, wird zur Königin erwählt. Nach der Bekanntmachung des Vernichtungsplans, welcher auf ein bestimmtes Datum angesetzt wird, schmieden Mordechai und Esther einen Plan, wie sie die Vernichtung verhindern können. Der Plan gelingt, Esther erwirkt für ihre Landsleute das Recht, sich gegen Angreifer zu verteidigen und dementsprechend das Todesurteil aufzuheben, und Haman wird für sein Vorhaben bestraft und gehenkt. Zur Erinnerung an die Massenrettung legen Esther und Mordechai fest, dass das ursprüngliche Datum der Vernichtung, an welchem sich das Schicksal gewendet hat, zu einem Tag der Freude, der Geschenke, der guten Taten und des Lachens zu machen. Und so feierten und feiern Juden die Jahrhunderte hindurch das Fest der Rettung, der Einigkeit, der Selbstaufopferung  und dem Sieg des Guten über das Böse, ganz egal, wie die Stimmung um sie herum sein mochte  – ob nun in den dunkelsten Zeiten des Exils, ob mit Kostümen, dröhnender Musik, Tanz und Wein auf offener Straße im eigenen Staat.

Die Bräuche, die das Fest begleiten, sind knapp und sozial ausgerichtet: Neben dem zweifachen Hören der Esther-Rolle abends und morgens hat man ein großes Festmahl mit vielen Gästen zu veranstalten, Freunden mindestens zwei essbare Geschenke zu bringen und ebenso an Bedürftige Essen und Geld zu spenden. Auch ist das Trinken unabdingbar – denn, so wie es im Talmud steht, „der Wein geht hinein, und heraus kommt das Geheimnis“, der Wein verwischt die Grenze zwischen Illusion und Wirklichkeit, er befreit die tiefste Freude, die innigsten Gefühle, lässt Trauer verschwinden und verbindet. Die Tradition der Verkleidungen ist kein usprüngliches Gebot zu Purim, hat aber auch das Element des Festes drin – Verwischung von Identität, von Gut und Böse,  und das Lachen über das Unbekannte und Bedrohliche.


Zurück zu uns in Judäa und Samaria.

Purim-Marathon für Neulinge

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Vorlesung der Esther-Rolle im Naturpark Oz veGaon
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Auch die Kleinsten machen mit

Den Feiertag feiert man in jeder Stadt ein wenig anders, und natürlich hat das in den Siedlungen sein ganz persönliches Flair. Am Abend und am Morgen rennen die Menschen, vor allem die mit den Kindern beschäftigten Frauen (alle Kinder müssen ja geschminkt und geschmückt werden…) den Vorlesungen der Esther-Rolle hinterher, denn es ist ein Pflichtgebot, sie von einer Pergamentrolle vorgelesen zu hören. Meistens gibt es Lesungen in der Synagoge, aber alle beide habe ich persönlich verpasst, und daher waren wir am Abend noch mit Bekannten in das benachbarte Neve Daniel um 11 Uhr gedüst, um dann in einer Gemeinschaft von ebensolchen „Zuspätkommern“, natürlich verkleidet, in einem Haus eines großen bärtigen Mannes die Rolle vorgelesen zu bekommen. Wenn der Name des bösen Haman fiel, wenn man traditionell pfeift, klopft und andersweitig seine „Verabscheuung“ ausdrückt, quäckte der Hausherr mit seltsamer Stimme von der Haustreppe. Einige meiner Bekannten öffneten schon am Abend die Wodkaflasche, und in der Karavansiedlung lief irgendwo Musik, ansonsten war alles ruhig. Am Morgen war es an der Zeit, endlich, endlich die Nachbarschaft zu durchkreuzen nach den Freunden und Nachbarn, denen ich dieses Jahr ein Geschenk vorbereitet hatte.

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Kostümierte Familie aus Peru/Israel
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Alles in den Augen des Betrachters…

Wie erwähnt, ist es ein Gebot, mindestens zwei essbare Produkte an einen Bekannten zu schicken, und mindestens zwei essbare Produkte oder Geld an mindestens zwei bedürftige Menschen. Solche Pakete werden in bunte Tüten verpackt, irgendeiner steckt ein traditionelles Mini-Fläschchen Wein hinzu, es gibt Süßigkeiten und bei manchen auch was Gesundes, und dann geht es darum, die Sachen „an den Mann“  zu bringen, bevor die Sonne sich setzt. Jedes Jahr macht man in meiner Siedlung eine Lotterie, und jeder bekommt eine oder zwei Familien zugewiesen, denen man etwas schenken soll – so auch dieses Jahr. Vor allem für einen Neuling wie mich ist das natürlich sehr kostbar, von meinen mir noch wenig bekannten Nachbarn etwas zu bekommen, mit einem netten Zettel versehen, ebenso wie nachzudenken, was ich denn „meinen Familien“ in die Tüten legen soll.

Durch Alon Shvut sollte eine Maskarade-Prozession gehen, die hatte ich allerdings verpasst. Wer die Karnevalsumzüge aus Deutschland kennt – das ist etwas Ähnliches, und meine Version ist, dass der Brauch mit den deutschen Juden und ihrer Karnevals-Gewohnheit nach Israel importiert worden ist….aber ich habe mir es noch nicht bestätigen lassen.

Ein ganz persönlicher "Karnevalsumzug"...mit dröhnender Musik durch Alon Shvut
Ein ganz persönlicher „Karnevalsumzug“…mit dröhnender Musik durch Alon Shvut

Da ich noch an die wandelnden und laut feiernden Massen von Jerusalem gewöhnt war,  war mir hier es etwas zu still, obwohl in den verschiedenen Häusern Familien gemeinsam feierten. Ein Rabbiner sammelte bei sich die Geschenke für die Bedürftigen, welche er dann in eine Synagoge brachte und den Bedürftigen verteilte. Gut, dass es diese Möglichkeit gab; ich wüßte eindeutig nicht, wer bei uns in der Siedlung wohl bedürftig ist.

Das Fest von Hebron

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An der Haltestelle von Alon Shvut

Am Nachmittag fuhr mit einer Freundin nach Hebron, dort habe ich eine Bekannte, die mir eine Feier versprochen hatte.  Auf den Haltestellen standen bunte Leute und winkten mir zu.

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Pippi Langstrumpf an der Haltestelle Richtung Hebron. Die Betonpfähle sind dafür da, damit Terroristen die Wartenden nicht überfahren.

Im jüdisch-arabischen Teil von Hebron saß fast die ganze Gemeinde der jüdischen Viertel Avraham Avinu und Tel Rumeida in einem Saal voller recht betrunkener, fröhlich tanzender Menschen, und es gab dröhnende Musik, Essen und Wein. (Ich habe noch kein Wort über die jüdische Gemeinschaft in Hebron verloren, ihre Geschichte, von alt bis zu modern, ist unglaublich spannend, teilweise tragisch und hart, und auch nicht leicht zu verstehen – darüber in eine anderen Beitrag.) Der Saal lag ganz nah am Grab der Patriarchen, einem massiven, herodianisch-osmanischen Gebäude, unter welchem die Gräber der Ahnen des jüdischen Volkes – Avraham, Yitzhak, Ya’akov, und ihre Frauen Sarah, Rivka und Leah – liegen. Die Araber Hebrons, auf der Straße neben der Festhalle, schauten staunend zu der Musik aus den Fenstern hoch und zu mir, die ihnen aus dem offenen Fenster zuwinkte.

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Seltsame Treffen

Anschließend machen wir einen Spaziergang durch die Gassen des Teiles von Hebron, welcher uns als israelischen Staatsbürgern zu betreten erlaubt worden war – von unserer eigenen Regierung. Unterwegs wurde ich von einem Anfall von Übermut erfasst und beschloss, meine restlichen Süßigkeiten an die arabischen Kinder zu verteilen. Dank der Aufmerksamkeit, die mir mein buntes Auftreten sicherte, kam ich in Augenkontakt mit vielen arabischen Fußgängern, und manche konnten sich ein Lächeln abgewinnen, andere grüßte ich zuerst. Ich war in Hochstimmung. Soldaten in Shorts und T-Shirts joggten an mir vorbei und riefen etwas von wegen „täglicher Sport“ zu – wie konnten sie so einfach ohne Waffe herumrennen, fragte ich mich, und dann auch sie, als ich später auf sie traf. „Ja, zu Beginn machte es schon Angst, aber dann gewöhnt man sich daran“, erwiderte einer von ihnen lachend.

Die Kinder, denen ich die Süßigkeiten anbot, reagierten recht ambivalent. Zwei kleine Jungs hinter einem Haustor verneinten erst zurückhaltend, aber dann konnten sie nicht widerstehen und lächelten schließlich auch. Eine andere kleine Gruppe hatte zwei sehr dominante 6- oder 7-jährige Mädchen bei sich. Mein ehemaliges Arabisch hatte sich leider komplett verflüchtigt, und die Mädels bestanden darauf, dass ihre jüngeren Brüder ja nichts nahmen. Angst vor Fremden? Abscheu für die „Feinde“? Es konnte alles sein. Einer von den Jungs gab mir einen Keks, und als er schon auf einen „Austausch“ eingehen wollte, zerrte ihn die ältere Schwester oder Cousine zurück. Friedensverhandlung gescheitert? Die Mädchen hatten aber keine Skrupel, an meiner Perücke zu zupfen und zu fragen, ob sie echt sei. So lernten sie von mir auch das Wort „Sse’ar“  – Haare – welches ich ihnen aus Mangel an Arabisch auf Hebräisch zu vermitteln suchte.

Ein jüdischer Junge schaut aus einem Fenster in Hebron
Ein jüdischer Junge schaut aus einem Fenster in Hebron

In der Gasse mit den jüdischen Häusern war nicht viel los. In diesem Teil Hebrons leben Juden und Araber wie einst, vor dem fatalen Pogrom 1929, nebeneinander. Die Feindschaft ist allerdings sichtlich zu spüren. Eine vorbeifahrende junge Frau fragte mich, warum ich den Kindern die Süßigkeiten verteile. „Warum nicht?“, bemerkte ich. „Gut, wenn du meinst…“, antwortete sie und fuhr davon.

Wir plauderten noch mit ein paar Soldaten der Golani-Brigade, die momentan in Hebron stationiert sind, um für Recht und Ordnung im gemischten Stadtviertel zu sorgen. Und dann sahen wir sie – drei Männer mittleren Alters, mit den „Palitüchern“ in Kafiyya-Muster. Sie grüßten die arabischen Kindern und gingen dann in Richtung des Grenzübergangs, der den gemischten vom rein arabischen Stadtteil trennt. Meine Freundin und ich gingen ebenso hin. Obwohl sie nicht einverstanden gewesen war, sprach ich die Männer an – ich war mir sicher, sie waren Europäer. Tatsächlich – zwei erwiesen sich als Engländer und der dritte Mann war deutsch.

Was sie denn so machten, und wie lang sie in Hebron seien, sprach ich ihn auf Deutsch an. Er war sichtlich überrascht, aber erzählte mir, sie seien ein paar Tage da, und von einer christlichen Organisation namens Irgendwas geschickt worden (sie trugen gar ihre Jacketts). Ob sie auch im jüdischen Teil gewesen seien, und das Fest mitbekommen haben, fragte ich. Ja, meinten sie, es gäbe da ein Fest und Musik. Was sie denn machten in Hebron, fragte ich. Sie würden morgens und nachmittags so um den Grenzübergang sein und auf der Straße, denn ich wisse ja, es gäbe hier viele Kinder, und sie würden dafür sorgen, dass die Kinder sicher zur Schule kämen, weil, ich wisse ja, die Soldaten prüften ja die Taschen von den Kindern nach. Aha. Nette Leitlinie. Wüssten sie denn nicht, dass man in Schultaschen auch gefährliche Dinge hineinlegen kann, fragte ich möglichst freundlich nach. Aber das seien doch Kinder, erwiderte mir der Deutsche mit demselben sehr freundlichen Lächeln. Gerade in Taschen von Kindern könnte man aber gefährliche Dinge schmuggeln, bestand ich darauf. Bevor ich unsere „sehr freundliche“ Diskussion weiterverfolgen konnte, rief mich plötzlich ein Offizier zur Seite.

„Warum redest du mit ihnen?“, fragte er mich und klang irgendwie verbittert. „Ich versuche herauszufinden, was sie hier machen, obwohl es mir schon recht klar ist“, antwortete ich ihm. „Rede nicht mit ihnen, lass sie, ich will nicht, dass ihr mit ihnen redet.“ „Wieso nicht? Ich rede mit ihm auf Deutsch, und ich provoziere auch nicht“, rechtfertigte ich mich, aber er blieb auf Seinem. „Wir reden nicht mit ihnen hier. Meinst du, du kannst ihnen etwas erklären, sie von etwas abbringen oder überzeugen? Weißt du, was die machen? Sie kommen jeden Morgen und stehen hier, und bedrängen uns, und grüßen jedes einzelne arabische Kind, und wenn ein jüdisches vorbeikommt, schauen es es nicht einmal an, und sie behindern unsere Arbeit. Sie holen hierher Leute und organisieren Demonstrationen. Wenn ich könnte, würde ich diesen Arschlöchern, und vor allem dem da (er nickte in die Richtung des Deutschen) eine Kugel in den Kopf schießen, aber ich darf es nicht.“ Ein Soldat auf einer Wachtreppe über uns stimmte dem Offizier zu. Ich kannte diese Situation schon von früher, aus meiner Dienstzeit in der Armee; damals hatten mir Soldaten an derselben Stelle von den Aktionen der linken europäischen Aktivisten erzählt. „Ich verstehe dich“, erwiderte ich dem jungen Offizier, „ich würde es auch tun wollen. Ich spreche aber nur mit ihm!“ „Ja, ich weiß, du machst nichts Verwerfliches, aber ich möchte trotzdem lieber nicht, dass Juden mit denen sprechen, es bringt nichts.“

Wir verabschiedeten uns und gingen. Die Sonne setzte sich langsam. Wir diskutierten über den Vorfall, besuchten das Grab der Patriarchen kurz, aber dann trennten sich unsere Wege. Ich fuhr nach Hause, und zum wiederholten Male hatte ich das Gefühl, ich würde diese Stadt und ihr Innenleben nicht in der Lage sein, adequat zu erfassen, und fühlte eine Anspannung auf mir lasten, als würde ich innerlich eingezwängt werden. Ich verstand Hebron noch immer nicht, und eines Tages würde es an der Zeit werden, mich auch in diese komplizierte Materie hineinzufühlen. Mit diesen und anderen Gedanken fuhr ich per Anhalter heim nach Gush Etzion und es erschien mir plötzlich so gewohnt, heimisch und leicht.