…Es ist vier Uhr morgens. Ich stehe am Fenster. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und mache mir einen Tee. Gleich werde ich wieder ins Bett gehen. Das Fenster ist leicht geöffnet, draußen ist es ruhig, alles schläft, das Dunkel wird gleichmäßig von den Lampen der Karavans, der Schnellstraße und dem nahgelegenen Städtchen Efrat aufgehellt. Hinter der Lichtgrenze – tiefschwarze Nacht.
Und plötzlich ist es da. Ein Schall rollt langsam heran, von den Bergen, und erhebt sich in die Luft; eine Stimme, der von überall her gleichzeitig zu kommen scheint. Der Schall spaltet sich auf in verschiedene Töne, die ihn mittragen, und auf verschiedener Höhe sich zusammenfinden in eine mächtige Stimme, die sich wie eine Welle über die Umgebung auszubreiten scheint. Sie kommt näher, nimmt zu und wird dann geringer, und während eine Melodie, die sich entfernt aufzusteigen wähnt, einen nur ihr bekannten Höhepunkt erreicht hat und wieder abklingt, stärkt sie ein aufwallendes Echo, das ihr folgt und sie nicht verschwinden lässt. Und hinter diesem noch eines, und noch eines.
Das muslimische Gebet. Fünf Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden erschallt die Stimme des Mu’azzins in jedem arabisch-muslimischen Dorf und ruft die Gläubigen zum Gebet auf. Tagsüber wird man bei dem hohen Lautpegel, der selbst hier in den Bergen herrscht, kaum darauf aufmerksam. Wer aber wach ist, noch bevor die Sonne aufgeht, wird Zeuge dieses Phänomens.
Kein Tag, an dem er nicht ruft. Und nie ruft er allein. Ob nun eine Tonbandaufnahme, oder ein tatsächlicher Geistlicher, der rund um die Uhr seine Pflicht erfüllt, der dort in den Moscheen steht und mitten in der Nacht Menschen aus dem Schlaf zur heiligen Bestimmung reißt – es wird nicht ausgelassen. Der Mu’azzin ruft, und er ruft in jedem der umliegenden arabischen Dörfer, und er macht dies schon, seit diese hier existieren, und in jedem muslimischen Land macht er es. Worte schallen aus seinem Ruf hervor, und ich kann nicht unterscheiden, wo der Ruf zuerst beginnt, und wo er von den anderen aufgegriffen wird – in Abdallah Ibrahim, in Wadi Nis, in Bet Fajjar, in Betlehem, in El Arub, in Jjaba, Zurif, Nahalin, Bet Jjalla…? Und sie alle singen und rufen in einer Monotonie, die keinen Raum für Interpretationen lässt. Sie rufen Gott, und sie reden von der Größe Gottes, und sie holen den Propheten in ihrem Ruf vom Himmel*, und in einem gespenstischen Vielklang, der sich von jedem Hügel wiederholt und vervielfältigt, bezeugen die Rufe die Anwesenheit derjenigen, die die Botschaft von der Größe Gottes hinaustragen sollen. Die Untergebenen vor Gott**, die wahren Gläubigen. Sie tragen es in die Welt, und die, die sich nicht in ihren Reihen finden, sollen es hören und verinnerlichen.
– Zweierlei Bedeutung hat der Mu’azzin für die, die ihn hören: Wer ihm folgt – folgt dem Aufruf, in den Reihen der Armee des Weltschöpfers zu stehen, und seinen Befehlen und den Befehlen seines Gesandten, des Propheten, zu gehorchen. In allem, was er tut, sagt und denkt. Auch wenn er schläft, und der Schöpfer ruft, dann steht er auf, und schließt sich der Reihe an. Der Schöpfer steht über ihm. Es gibt kein Wenn und Aber.
Wer aber den Mu’azzin hört und nicht weiß oder nicht verstehen will, was der Schöpfer will, und wofür der Prophet hierhergekommen ist – der soll verinnerlichen und wissen – er wird gesehen, und seine Taten werden gesehen, und die Menschen, die das Wort des Schöpfers und seines Propheten erfüllen, kennen ihn. Er wird sich nicht lange davon enthalten können , nicht lange wird er die Geduld des Schöpfers strapazieren, der will, dass der Mensch, den Er geschaffen hat, ihm folgt. Seine Getreuen sind um ihn herum, und sie stehen bereit. Höre, oh Ungläubiger, was der Schöpfer dir zu sagen hat. Höre, dass sein Prophet hier gewesen ist, um dir mitzuteilen, dass du nicht tust, was der Schöpfer will. Seinen Willen willst du nicht sehen, aber seine Stimme kannst du nicht überhören. –
Und fünf Mal am Tag und in der Nacht, bei jeder Tätigkeit, übertönt der Ruf im Namen des Schöpfers der Welt alles Weltliche, und hallt von den Bergen, aus jedem Dorf. Und ich stehe am Fenster des kleinen Karavans, blicke in die Nacht hinein und begreife, wo ich lebe.
Das ist keine virtuelle Welt, und kein illusionsbeladenes Gedankenexperiment, kein Diskurs, kein Logikspiel, kein Film und keine Theorie.
Das hier ist ein Universum, in welchem jede Existenz fest verbunden ist mit dem, woher sie kommt, was sie tut, wohin sie geht.
Ich lebe mitten unter Menschen, deren gesamte Lebenssicht keinen Platz für Zweifel lässt, keine Notwendigkeit für Fragen hat und die sich nicht mit einer Suche befasst. Hier sucht niemand, und hinterfragt niemand. Hier wird gelebt, was als richtig festgelegt wurde, hier wird geboren, gekämpft und gestorben, für das, was als Wahrheit gilt. Es ist eine Entehrung der Wahrheit, eine Entehrung von allem, was wichtig ist – Gott, Familie, und man selbst – wenn man für diese nicht bereit ist, alles zu tun – das letzte Hemd hinzugeben und das letzte Hemd zu nehmen. Und diese Menschen halten fest in ihrer Hand, woran sie glauben, und sie halten sich mit Zähnen und Krallen daran, wo sie leben, und was sie haben. Sie fragen nicht, ob es gut ist, ob es strategisch ist, ob es der Sicherheit oder dem guten Ruf dient, oder ob es die Welt verbessern kann, oder Gnade oder Menschlichkeit erwirken wird oder Fortschritt bringt. Ihnen wurde gesagt, was richtig ist. Vom Vater, vom Großvater, vom geistigen Vorsteher, vom Propheten. Und selbst, wenn es der politische Funktionär der einen oder anderen Partei gewesen ist. Es ist alles eins. Alles Wille des Schöpfers, und vorgeschrieben***, und nichts kann und wird es vom Fleck bewegen – das, was richtig ist.
Diese Menschen finden sich nicht ab mit Erklärungen von Fremden. Sie haben nicht viel, sie haben sich nie darum bemüht, viel zu haben, viel zu schaffen, viel zu bewegen. Das ist nicht die Lebensaufgabe. Lebensaufgabe ist es, zu gehorchen. Und die Ehre nicht zu Schaden kommen zu lassen. Sie sind die älteren Brüder****. Sie wissen, was sie wollen, und sie verstecken es nicht. Wie kannst du deinen Stolz und deine Ehre verteidigen, wenn du sie versteckst? Was hast du, wenn du diese nicht mehr hast? Nichts.
Die jüngeren Brüder**** hingegen suchen noch nach sich, und nach tausenden von Jahren sind sie sich nicht mehr sicher, wer sie sind, und was sie wollen. Ihre Lebensideologie ist eine andere. Die Menschen in den Karavanen, und den hübschen Steinhäusern, die sich in die Gegend gewagt haben, wollen auch nicht mehr in einer Welt von Virtualität, Illusionen und Zweifeln leben. Sie wissen, man hat ihnen das generationenlang erzählt, dass sie auf der Suche nach sich selbst sich genau hier wiederfinden werden. Auch sie kämpfen darum, die Wahrheit zu finden, und diese zu verteidigen.
Aber sie kommen aus einer Welt, die jahrhundertelang nirgendwo anders existiert hat, als im Buch. Das Volk des Buches°*. Der Gedanken, der Fragen, der Gespräche, der Zweifel und der *Abwägungen, des ständigen Prüfens und Hinterfragens – ist es gut, ist es richtig, ist es nötig, ist es förderlich, was ich im Leben tue? Habe ich Recht?
Diese Menschen sollten untergeben sein, sie sollten tun und dann sollten sie hören° und nachdenken. Aber ihr Charakter und ihr Innerstes widerstrebt sich diesem. Sie fragen. Sie streiten. Sie suchen. Sie sehen und hören und können es nicht glauben°°. Und jetzt, wo sie endlich die Möglichkeit bekommen, aus der Wanderung herauszugehen und so, wie es scheint, das Zepter zu ergreifen und zurückzukehren dorthin, woher sie zu stammen scheinen – weichen sie zurück. Und nehmen zaghaft die „Einladung“ an, aber wissen nicht, wie sie mit all dem umgehen sollen.
Ihnen gegenüber stehen ernste Menschen. Kampferprobt, und ohne Fragen. Um zu überleben, um fest auf dem Boden der Tatsachen zu stehen, brauchen sie nicht zu differenzieren. Sie sehen ihre jüngeren Brüder, die erst so spät gekommen sind, um in diesem Land, von welchem sie wissen, dass es ihr Ursprung ist, Tatsachen zu schaffen. Aber sie schaffen keine! Sie reden, sie fragen, sie zweifeln, sie halten sich am Land fest, aber sind sich nicht sicher, ob und was es bringt.
Sie verteidigen nicht die Ehre dieses Landes, und ihre Wahrheit, und den Stolz kennen sie auch nicht recht. Sie sind jung, sie haben viel erlebt, das ist wahr; aber hier in diesem Land benehmen sie sich nicht wie Hausherren, sondern wie launische Gäste, wie verträumte Mieter und wie unzufriedene Erben, die nicht um den Wert ihres eigenen Nachlasses wissen.
– Und so stehe ich am Fenster, höre mich in die Töne der Dunkelheit hinein, und ich verstehe, dass wir hier, an diesem Ort, andere Augen haben müssen, um zu sehen, andere Ohren, um zu hören, und vor allem ein Herz, das sich seiner Liebe treu sein muss. Wir, trotz unser aller Bemühungen, trotz der gewaltigen Leistung der Transplantation einer ganzen Nation in einen für uns schon lange Zeit in Totenstarre verharrten ‚Körper“°°° in so kurzer Zeit, sind noch nicht am Ziel angekommen.
Wir sind noch nicht mit der Umgebung hier verwachsen. Noch nicht in die Erde eingegangen, noch keine Wurzeln geschlagen, noch nicht verschmolzen. Wir träumen noch. Wir können nicht glauben, was wir sehen, und sehen nicht, wer neben uns ist. Wir verstehen noch nicht die Sprache dieses Ortes, trotz der Tatsache, dass wir die Ursprungssprache hier haben aufleben lassen. Aber mit den Menschen, die sich hier in unserer Abwesenheit verwurzelt und diesen Ort mitgestaltet haben, können wir nicht sprechen. Wir kennen ihre Sprache nicht, und sie verstehen nicht, weshalb sie die unsere sprechen sollen. Wir wissen, wie man die Wüste aufblühen lässt und wie man Wein aus dem Bergen bringt, aber wir wissen nicht, wie man diese verteidigt.
Denn wir kommen aus vielen Welten, und haben es uns nicht mehr und nicht weniger zum Ziel gesetzt, diese hier zu vereinen! Ein Paradies zu schaffen, in dem jeder seinen Platz haben würde! – Und haben in aller Eile und heiliger Begeisterung uns nicht die Mühe gegeben, diesen Platz für das Paradies erst fest in den Händen zu haben, dafür zu schwitzen, zu leiden, zu leben und zu sterben. Viel zu eilig sind wir, viel zu hochstrebend, viel zu visionär, viel zu abstrakt. Unsere Füße stehen unruhig auf der Erde, der Kopf ist im Himmel und die Füße wollen immer wieder auf die Leiter steigen^. Unsere Seele mag das Hier und Jetzt nicht; sie klammert sich an die Vergangenheit und träumt schon heute vom übermorgen^^. Das kann nicht jemand verstehen, der fünf Mal am Tag daran erinnert wird, dass er sich demjenigen zu unterwerfen hat, der ihm diesen Tag gegeben hat.
Noch viel haben die Juden aufzuholen, und das, so schnell es nur geht, wenn sie nicht verlieren wollen, was sie eben erst wieder entdeckt haben – ihr Selbstverständnis. Denn die Araber werden das ihre für niemanden hinterfragen. So sind die Regeln des Nahen Ostens.
Textverweise:
* Der Ruf des Mu'azzins, der Gebetsrufers:
الله أكبر, أشهد أن لا اله إلا الله, أشهد أن محمدا رسول الله, أشهد ان عليا ولي الله, حي على الصلاة , حي على الفلاح, حي على خير العمل , الصلاة خير من النوم, الله أكبر, لا اله إلا الله
Gott ist groß, ich bezeuge, dass es keine Gott außer Gott (Allah) gibt, ich bezeuge, dass Mohammed Gottes Prophet ist, ich bezeuge, dass Gott über mir und mir (meiner) ist, eilt zum Gebet, eilt und habt Erfolg, eilt zu dem vorzüglichsten Dienst, das Gebet ist vorzüglicher als der Schlaf, Gott ist groß, es gibt keinen Gott außer Gott (Allah).
** Islam, (arab.) - totale Hingabe und Unterwerfung an Gott und Seinen Wunsch.
*** Der Determinismus im Quran: "maktub" und "muqaddar" als Begriffe, die darauf deuten sollen, dass Gott 1. ein Vorwissen von allen Taten und Entscheidungen des Menschen hat, und 2. schon vorentschieden hat, was für Ereignisse geschehen werden.
**** 1.Buch Moses, Kap.16, 15 - Geburt Yishma'els, Sohnes Avrahams, der als Vorvater der Araber gilt. Kap.21, 1-7 - Geburt Yitzhaks, Sohnes Avrahams, der als Vorvater der Juden/Hebräer gilt.
°* أهل الكتاب Das Volk des Buches. Islamischer Begriff für Anhänger der "Buchreligionen", denen Gottesoffenbarungen in einem Buch verkündet worden sind, namentlich Juden und Christen (und andere Gruppen, je nach Ausnahmen; zeitweise waren nur Juden darunter gezählt). Die Anhänger der Buchreligion sollten nach islamischem Recht nicht zwangsweise konvertiert oder bedrängt werden, sondern eine spezielle Kopfsteuer für die Befreiung von islamischen Pflichten zahlen und wurden in der muslim.Gesellschaft vom Gesetz geschützt.
° In Anlehnung an 2.Buch Moses, Kap.24, 7 - die Antwort der Juden auf das Vorlesen des Gesetzes Gottes am Berg Sinai - "wir wollen tun und wir wollen hören".
°° Ähnlich werden die Reaktionen des Volkes Israel auf den Auszug aus Ägypten, das Versprechen des Landes Israel in der Tora beschrieben. Psalm 126, 1: "Als Gott die Rückkehrer von Zion zurückbrachte, da waren wir wie Träumende." Theodor Herzl im Buch "Altneuland": "Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen."
°°° In Anlehnung an die "Vision der trockenen Knochen", Yehezkel 37: Die Prophezeihung der "Wiederbelebung der trockenen Knochen" wird im Text des Buches Yehezkel und von späteren Kommentatoren als das Wiederbeleben des Volkes Israel als Nation im eigenen Land und als Versprechen der Rückkehr aus dem Exil gesehen. (37, 11-15; 21-22)
^ In Anlehnung an 1.Buch Moses, Kap.28,12 - die Leiter im Traum von Ya'akov, dem Vorfahren der Juden, deren "Füße" auf der Erde stehen und deren "Kopf" im Himmel gründet.
^^ In Anlehnung an den Erlösungsgedanken der Glaubenssätze der jüdischen Religion. Siehe auch: Sprüche der Väter, Kap.4, 22: "Besser eine Stunde der Rückkehr und der guten Taten in dieser Welt als das ganze Leben der kommenden Welt; besser eine Stunde im Geiste der kommenden Welt, als das ganze Leben in dieser Welt."