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Fragen des Ausgangspunktes II / Die Duma-Affäre

In diesem Teil moechte ich nun eine eigene Diskussion zum Thema ausarbeiten. Im ersten Teil haben wir uns Fakten und verschiedene Stellungnahmen angesehen. Hier habe ich nicht vor, nur nach Antworten zu suchen, sondern ich will Fragen aufwerfen. Denn es geht im Endeffekt nicht nur um eine bestimmte Tat von bestimmten Menschen, sondern um den Charakter und die Zukunft einer Gesellschaft.


In der Ausgabe des religioes-zionistisch ausgerichteten Wochenmagazins „Makor Rishon“ vom 25.12.15 (Vol.959) betitelte der  bekannte Rabbiner und Journalist Chaim Navon seinen Artikel zum Thema: „Eine Frage des Ausgangspunktes„. Einige Zitate aus diesem haben mich zu Gedanken angeregt, daher habe ich sie fuer euch uebersetzt:

Rabbiner Chaim Navon. Quelle: Wikipedia
Rabbiner Chaim Navon. Quelle: Wikipedia

„Ich bin staatstreu, aber ich denke nicht, dass der Staat heilig ist. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der Staat der Beginn unserer Erloesung ist. Ich bin minimalistisch staatstreu: Ich glaube, dass der Staat sich so wenig wie moeglich in unser Leben einmischen soll, dass so viele oeffentliche Aemter privatisiert werden sollen wie moeglich (…). Ich mag keine oeffentlichen Einrichtungen, die sich aufzwingen und konzentrierte Gewalt ausueben. Aber was ich noch weniger mag, sind Babies, die zu Tode verbrannt werden.“

Weiter im Text erklaerte Navon, vor dem Attentat in Duma habe er geglaubt, dass die Jugendbanden der „Huegeljugend“, die den „Price-Tag“-Vandalismus gegen die Armee und palaestinensischen Besitz auszufuehren pflegten, sich aus gelangweilten Jugendlichen mit grosser Klappe zusammensetzten, die im Schutze der Armee ein Raeuber und Gendarmen-Spiel gegen dieselbe Armee betrieben und laecherliche Graffiti spruehen wuerden. Nach dem Attentat merkte er, so Navon, dass er sich geirrt habe.

„Ohne einen agressiven Ermittlungsvorgang gegen diese Gruppe, so sagte mir ein Minister, wird es Duma 2 und auch Duma 3 geben.“

Und hier kam Chaim Navon auf die eigentliche Frage zu sprechen.

„Wir muessen uns fragen, was unseren Augangspunkt betrifft. Glauben wir dem Shin Bet oder bevorzugen wir den Argwohn? (…) Noch vor einer Woche waren wir sehr stolz auf den Kippa-tragenden Leiter des Shin Bet und seinen Stellvertreter, den Siedler, der zum neuen Polizeichef gekuert wurde. Man kann nicht nach einer Woche mit vollem Ernst behaupten, dass diese Organisation die Religioesen zum Fruehstueck verspeist. Es ist dieselbe Organisation, die uns erfolgreich vor den arabischen Terroristen beschuetzt und in welcher unsere Verwandte und Nachbarn voller Aufopferung dienen. Man kann ihre Aussagen nicht einfach von sich weisen.“

Weiter argumentierte Chaim Navon auf aehnliche Weise: Soll man den Rechtsanwaelten der Inhaftierten glauben, nur weil sie ueber die Folterungen erzaehlen? Folterungen seien kein legales Mittel, doch gute Rechtsanwaelte muessten auch ihre Faehigkeit unter Beweis stellen. Seit jeher, so Navon, wuerde jeder Rechtsanwalt behaupten, sein Mandant haette Folterungen waehrend der Verhoere beim Shin Bet erlitten. Sollte man nun die heutigen Aussagen als die ultimative Wahrheit annehmen, nur weil es sich um „unsere Leute“ handeln wuerde? Dasselbe wuerde auch fuer den Protest gegen Folterungen an sich gelten, denn wenn es um andere Faelle mit aehnlichen Vorwuerfen ging, so Navon, so wuerde man nicht viel aus dem religioes-zionistischen Lager hoeren. Man wuerde die Inhaftierten als gewoehnliche Verbrecher sehen, im Gegensatz zu den arabischen Terroristen, den „Feinden“. Es handle sich aber in diesem Fall nicht um gewoehnliche Verbrecher, sondern um eine anarchistische und organisierte Vereinigung, die nun mit einem Mordfall in Verbindung steht.

„Wuerden wir genauso reagieren, wenn es sich um eine linksextreme Gruppe handeln wuerde? Die Sprecher des religioesen Zionismus wuerden in einem solchen Fall den Shin Bet von hier bis nach Guantanamo unterstuetzen. Aber hier zieht sich das Herz zusammen, weil es sich um ‚die Unseren‘ handelt“,

schrieb Chaim Navon im Artikel und liess diesem nachfolgen:

„Man muss zugeben, das Herz zieht sich tatsaechlich zusammen. Man muss auch die Vorwuerfe mit vollem Ernst pruefen und ihnen nachgehen. (…) Auch der Shin Bet ist nicht heilig und nicht immun gegen Fehler. Aber was ist unser tatsaechlicher Ausgangspunkt? (…) Sind wir nicht eigentlich nur eine geschlossene Gesellschaft, die sich nur um sich und die Eigenen kuemmert? Viele von uns reden davon, das Land regieren zu wollen. Aber dafuer muss man eine der gesamten Gesellschaft dienende Elite darstellen, und keinen kleinen Sektor, der nur den eigenen Interessen nachgeht.“

„Die Rechte des Individuums, so haben wir immer gesagt, sind nicht das Allerheiligste. Das Recht auf Leben und Sicherheit geht vor. (…) In Extremfaellen, so haben wir immer gesagt, darf man und muss man die Rechte des Individdums einschraenken. Ich denke an das lebendig verbrannte Baby in Duma und es faellt mir schwer, an einen extremeren Fall als diesen zu denken.“

In diesem Text hatte Rabbiner Navon versucht, etwas hinter die Kulisse der mannigfaltigen Vorwuerfe gegen die oeffentlichen Stellen  innerhalb der religioes-zionistischen Gesellschaft zu schauen. Die Vorwuerfe betrafen sowohl den Folterverdacht als auch einen generellen, tief sitzenden Zweifel an der juedischen Identitaet der eigentlichen Taeter von Duma. Seit dem Attentat Ende Juli 2015 und bis heute, ein halbes Jahr danach, gibt es viele in meiner Umgebung und auch in der Presse und in den Netzwerken, die es noch immer vorziehen, nicht von juedischen Taetern zu sprechen. Juristisch gesehen stellt das an und fuer sich kein Problem dar. Wir kennen das Gesetz, „im Zweifel fuer den Angeklagten“, und ausser des wirklichen Taeters und vielleicht auch seiner Ermittler  oder anderer „Eingeweihten“ koennen alle Anderen nur Zweifel haben und auf Basis dessen sich der einen oder anderen Meinung anschliessen. Die Presse hatte noch bevor irgendeine tatsaechliche Spur ausgemacht werden konnte, lauthals von „juedischem Terror“ gesprochen. Ein solcher Begriff sitzt insbesondere Menschen, die jahrzehntelang tagtaeglich unter arabischen Terroraktivitaeten leiden muessen, sehr schwer im Hals. Eine Anklage gegen die Sprosse aus der eigenen Mitte zu erheben, moegen sie noch so viel Randale, Vandalismus und radikale Ansichten pflegen, verletzte fuer viele in dieser Gemeinschaft rote Linien.

Aber die Anklage blieb, und der Shin Bet tat seine Arbeit, und Verdaechtige wurden inhaftiert, und auch wenn einige von ihnen ohne Anklage entlassen wurden (und darueber hatten die Massenmedien wohlbemerkt nur knapp am Rande berichtet, von den internationalen Medien ganz zu schweigen) und der Verdacht auf ungehoerige Verhoermethoden aufkam – der Fleck war da und war nicht mehr so leicht wegzuwischen. Ob man es wollte oder nicht – die religioes-zionistische Gesellschaft, aus welcher die Verdaechtigen zu kommen schienen, stand am Pranger und von ihr wurde und wird eine Antwort erwartet.

Welche Antwort kann sie geben?

Und hier setzt die Frage nach dem Ausgangspunkt an.  Von was gehen wir aus, wenn wir uns gegen den Mord  oder für die Verdächtigen aussprechen ? Was ist unsere moralische Basis, und wie wahren wir sie angesichts dieser Tat? Welchen Blickwinkel sollen wir einnehmen – den der zu Tode gekommenen Opfer, an dessen Tod offenbar jemand die Schuld traegt, der sich unserer Vorstellungen und Ideale unrechtmaessig bemaechtigt hat und sie zu dieser Tat ausgenutzt hat?  Oder den der vielleicht zu Unrecht Verdaechtigten im Rahmen einer moeglichen Delegitimierungskampagne eines Staatsapparats, der unsere Gemeinschaft  – die der religioesen Zionisten – noch in den Tagen der

Caroline Glick. Quelle: Wikipedia
Caroline Glick. Quelle: Wikipedia

Ermordung Y.Rabins zu verteufeln suchte (wie Caroline Glick im Artikel „Israels hausgemachte Feinde“ so treffend beschreibt)?  Oder ist das, was hier benoetigt wird, eine breite  Perspektivsicht  auf die israelische Gesellschaft im  Ganzen und die Rolle, welche die religioes-zionistische Ideologie in ihr jetzt und in Zukunft einnehmen will?

Jedes solche gesellschaftliche Dilemma wird selbstverstaendlich durch die Medien aufgegriffen. Die Medien gelten als Sprachrohre der Gesellschaft und ihrer Emotionen und Bedenken. Allzuoft merken wir aber, dass die besagten Sprachrohre eher als Verstaerker denn als vertrauensvolle Wiedergabeinstrumente agieren. Auch in diesem Fall folgten auf jede neue Offenbarung immer groessere und gruseligere Schlagzeilen. Neben dem allgemeinbekannten medialen Populismus suggerierten sie aber unterschwellig noch etwas – Gefahr. Ist hier, aufgrund dieser Taten, die ganze Gesellschaft in Gefahr, moralisch zu verkommen? Von vielen oeffentlichen Figuren, Abgeordneten, Menschenrechtlern und anderen, kam das laute Verlangen auf, dass ein jeder aus dem religioes-zionistischen Milieu mit auch nur der kleinsten Position im oeffentlichen Leben die Tat  laut verurteilen und sich davon distanzieren soll. Mit einem Mal hatte man ein  wenig das Gefuehl, jeder stuende unter Generalverdacht, den Mord zu unterstuetzen.

Aber inwiefern ist der „Verurteilungszwang“ legitimiert? Was heisst ein solches Verurteilen und wie ehrlich wuerde es ausfallen, sollte man es erzwingen wollen – beispielsweise aus politischen und gar nicht aus menschlichen Beweggruenden? Und welches Recht haben andere politische  Lager, vom unserem die „moralische Perfektion“ zu verlangen, ohne auch auf andere Aspekte einzugehen, wo sie selbst  „Dreck am Stecken“ haben? Haben wir es mit einer Situation zu tun wie der Zeit nach dem Mord von Yitzhak Rabin, von der Zeitzeugen berichten, dass glaeubige Juden ihre Kopfbedeckung verstecken mussten, wenn sie am Tatort in Tel Aviv vorbegingen  und als jemand auch nur bei der leisesten Kritik an Rabin eine Vorladung vom Shin Bet riskierte? Oder ist heute die Bewegung des religiösen Zionismus anerkannter und stärker verwurzelt als zuvor?


 

Minister Naftali Bennett. Quelle: Ynetnews
Minister Naftali Bennett. Quelle: Ynetnews

Naftali Bennett ist Erziehungsminister und Vorsitzender der Partei „Juedisches Heim“, welche auch haeufig als „Siedlerpartei“ betitelt wird, weil sie sich offen fuer die juedische Besiedelung von Judaea und Samaria ausspricht . Am 26.12.15 veroeffentlichte er einen Facebook-Post , der sich auf eine Ausserung des Verteidigungsministers Moshe Ya’alon im Gespraech mit Channel 2 bezog, welcher behauptete, „ohne die gesamte Siedlerbewegung und das religioes-zionistische Lager beflecken zu wollen, muss sich dort allerdings jemand einer Selbstpruefung unterziehen.“: (Link zum englischen Text)

„Das nationale Lager ist breitgefaechert, stark, mutig und moralisch genug, um sich selbst einer inneren Selbstpruefung zu unterziehen bezueglich der Phaenomene, welche zur Entstehung von Duma beigetragen haben. Wer versuchen wird, den Fall Duma fuer politische Zwecke auszunutzen, wird mich ihm gegenueberstehend finden. (…) Allen meinen Freunden im nationalen und religioes-zionistischen Lager sage ich – wir werden den Kopf nicht senken. Denn ich bin stolz, rechts zu sein.“

Naftali Bennett erwaehnte die Notwendigkeit und auch die Faehigkeit des religios-zionistischen Lagers zur Selbstpruefung. Niemand kann jedoch behaupten, dass alle Angehoerigen dieses Lagers mit dieser Notwendigkeit im selben Masse einverstanden sind, und wenn ja, welche genauen Parameter diese „Selbstpruefung“ haben wuerde. Denn wie jede andere Gemeinschaft, so besteht auch diese aus Menschen mit verschiedenen Ansichten und Weltanschauungen, mit jeweils verschiedenem Hintergrund und Motivation. Nicht unbedingt wird ein solches Fazit fuer jeden Aussenstehenden oder selbst jemanden mit aehnlichen Ansichten passabel lauten.

Hügeljugend. Illustration. Quelle: Omer Messinger/FLASH90
Hügeljugend. Illustration. Quelle: Omer Messinger/FLASH90

So meinte beispielsweise Me’ir Dana-Picard, ein guter Freund und politischer Aktivist noch aus den Tagen des Abrisses juedischer Siedlungen in Gaza in 2005, bezueglich der Duma-Affaere: Bei einer solchen Tat wuerden rote Linien verwischt werden. „Dabei interessiert mich, da bin ich ehrlich, weniger das arabische Opfer als vielmehr die allgemeingesellschaftliche Tendenz zur Gewalt.“ Behandelt werden muesste diese Tendenz, die Gefahr laufen koennte, ausser Kontrolle zu geraten , allerdings zunaechst einmal durch Erziehung.


Eine andere Frage, die in mir aufkommt, wenn ich die Reaktionen in der Gesellschaft betrachte, ist diese:

Weiss die religioes-zionistische Gemeinschaft, welche Ideologien in ihren Reihen propagiert werden und in welchem Masse, und wenn ja, woran liegt es, dass die extremen und aufruehrischen unter ihnen, die anschliessend zu unumkehrbaren Taten fuehren koennen, nicht ernst genug genommen werden? Oder stillschweigend geduldet werden? Liegt es an einem „blinden Fleck“ innerhalb einer sonst mit moralischen Werten wie Naechstenliebe, Dienst zum Wohl der Gemeinschaft, Bescheidenheit, Fleiss und geringen Gewalt- und Mordraten glaenzenden Gemeinschaft?  Liegt es an den Ideologien selbst? Ist es aufgrund des Vertrauensbruches, der Enttaeuschung von den Staatsfuehrern, der Presse, der linksausgerichteten Elite und ihrer jahrzehntelangen Verachtung gegenueber dem religioes-zionistischen Lager? Den negativen Erfahrungen waehrend der 90er Jahre infolge der Politik und der Ermordung Yitzhak Rabins durch den Extremisten Yigal Amir, welcher mit diesem Lager identifiziert wurde, und der anschliessenden von oeffentlichen Stellen gefuehrten“Jagd“ auf diese Gemeinschaft?

In der israelischen Oeffentlichkeit kam in den letzten Wochen das Verlangen auf, die extremen Tendenzen der „Huegeljugend“ und ihrer Unterstuetzer in Zukunft mehr als zuvor ernstzunehmen. Auch das gefilmte Hochzeitsvideo (siehe Beitrag) trug dazu bei.

Auch im rechten und konservativen Sektor wurde dieses Verlangen geaeussert, aber das auch aus einer zusaetzlichen Perspektive.  Denn die serioese Auseinandersetzung mit dem Phaenomen des rechten juedischen Extremismus sollte sich nicht nur auf eine Schadensbegrenzung in der Zukunft belaufen. Die Schadensbegrenzung ist dabei nur eine praktische Konsequenz, aber viel wichtiger ist  das Verständnis, woher dieses Phaenomen rührt, und was diejenigen damit mitteilen wollen.

Gegenfrage: Sollte man das bei allen machen, das heisst, auch bei arabischen Terroristen? Eindeutig, ja. Auch bei arabischem Terror sollte man schauen und sich bemuehen, zu verstehen, woher dieser kommt, worauf er sich fusst und was diejenigen zu sagen haben, die ihn ausfuehren.  Aber ich sehe hier einen zentralen Unterschied zwischen den „hausgemachten Terroristen“ (C.Glick) und den „anderen“. Es gilt nicht, meiner Meinung nach, nur „Terror ist Terror ist Terror“ zu schreien, ohne in die Tiefe zu schauen. Terror ist Terror auf praktischer Ebene, aber die Eltern der Kinder, die diesen Terror hierzulande fabrizieren, leben mitten unter uns und sind oftmals ein zentraler Teil unserer Gesellschaft (Beispiel: Bei den Eltern des hauptverdaechtigen Minderjaehrigen handelt es sich um den Rabbiner einer Siedlung und seine im Erziehungswesen taetige Frau, welche beide als von den Nachbarn als „normativ“ und „beispielhaft“ bezeichnet worden sind, YNET).

Es sind keine Fremden und keine Feinde von aussen, und um unserer Gemeinschaft willen müssen wir verstehen und hören, woher das kommt, um das Ganze zu neutralisieren und in positive  Richtungen zu leiten.  „Feinde von innen“ haben grundsaetzlich eine andere Bedeutung als „Feinde von außen“. Das betrifft jedes politische Spektrum, von rechts sowie von links.


Ich moechte kurz zum besseren Verstaendnis eine Theorie vorbringen, welche auf meiner Kenntnis der innerjuedischen Perspektive, Geschichte und Lehre beruht und aus meinen Beobachtungen sowohl in Israel als auch in den juedischen Gemeinden im Ausland entstanden ist.

Die juedische Gemeinschaft ist so strukturiert, dass es einen starken gemeinsamen Bezug gibt, trotz eines starken Verlangens nach Exklusivitaet. In diesem Sinne unterscheidet sich das innere Bewusstsein dieser Gemeinschaft von den im Westen ueblichen Normen, insbesondere in der heutigen Zeit. Dies stellt meine Theorie dafuer dar, weshalb es einerseits so schwer faellt, bestimmte Menschen oder Gruppen aus der Gemeinschaft auszustossen oder sich deren zu entsagen. Der Drang zum Zusammenhalt ist (noch immer? schon immer?) gross gewesen, noch zur Zeit des Exils. Und der Zusammenhalt wird auch versinnbildlicht durch das Prinzip der „einen Familie“, wie es auf Hebraeisch heisst: „Volk Israel“. „Kinder Israels“. Die juedische Gemeinschaft sieht sich nicht als eine auf freier Wahl basierende Ansammlung unabhaengiger Individuen und auch nicht als „Schicksalsgemeinschaft“, sondern als Nachkommen und Erben einer an ihre Vorfahren als generationenlange Aufgabe ueberlieferten Idee, an welcher jeder seinen Pflichtanteil hat. Damit verbinden sich Rechte und Pflichten, und eine Zusammengehoerigkeit wird geschaffen, der man nur sehr schwer bis ueberhaupt nicht mehr entrinnen kann. Das Prinzip der Rueckkehr, der Busse und des Vergebens ist ein zentrales Prinzip im Judentum. Aus der Gemeinschaft ausgestossen zu werden signalisiert demnach nicht nur das komplette Scheitern des Individuums, sondern auch das Scheitern der gesamten Gemeinschaft. Wo auch immer eine Rettung moeglich ist, durch Rueckkehr, durch Strafabbuessung oder sonstiges, als praktisch „letztes Rettungsseil“, wird die Gelegenheit genutzt. Niemand darf zurueckgelassen werden, so das Prinzip.

Selbstverstaendlich gibt es dazu Auslegungen, die tiefer gehen als das banale Niveau, auf welchem ich es zu erklaeren versuche. Und dennoch; hat man dieses Wissen vor Augen, so ist es vielleicht einfacher nachzuvollziehen, was in den Herzen und Koepfen derjenigen der juedischen Gemeinschaft vor sich geht, welche sich als Teil dieser sehen und sich mit ihr und ihren Idealen identifizieren – angesichts dieser Tat und angesichts ihres Kontexts.

Fuer mich, wenn ich das oben Gesagte in Betracht ziehe, insbesondere, wenn es sich durch meine alltaeglichen Erfahrungen vervollstaendigt, wird es daher gar nicht mehr so unverstaendlich, wenn ich auf Proteste gegen die „Folteranklage“ treffe, auf welchen „Es gibt keinen juedischen Terror“, „Juden foltern keine Juden“ und „Wir sind alle Brueder“ geschrieben steht. Wenn ich Menschen aus unserer „Szene“ zuhoere, die allen Ernstes abstreiten, selbst nach den neuesten Entwicklungen, dass es moeglich ist, dass juedische Taeter den Anschlag in Duma begangen haben; die verdaechtigen Jugendlichen bemitleiden, die ihnen eine Chance geben wollen, „auf den rechten Weg“ zurueckzukommen, weil es sich doch um Jugendliche „wie unsere eigenen Kinder“ handelt;  und die sich vehement dagegen stellen, sie genauso wie die arabischen Terroristen, die „eigentlichen Staatsfeinde“, zu behandeln. Es geschieht nicht nur aus einem von nationalistischem Stolz gepraegten Gehabe heraus. Fuer sie ist es nicht nachvollziehbar, dass ein Jude eines anderen Juden, „seines Bruders“ in diesem Fall, Feind sein kann, und dass ein Ausstossen der Verdaechtigen bzw.der Taeter aus der eigenen Gemeinschaft sein gutes Ziel erreicht.

Aus diesem Grund fiel es mir persoenlich schwer, einer Demonstration gegen die angeblichen Folterungen durch den Shin Bet  in Jerusalem, am Abend des 27.12., zuzuschauen (hier der Bericht). Ich hatte dort bei dieser Gelegenheit mit einigen Jugendlichen gesprochen, um ihre Meinung zu hoeren. Es tat mir weh, diesen Teil der Gesellschaft, mit welcher auch ich mich generell identifiziere, zu sehen, und zu fuehlen, wie ich mich wider Willen von ihnen zu entfremden scheine, weil mit einem Mal eine verstoerende Kluft zwischen meinen und ihren Prinzipien entsteht. Es war kein leichtes Gefuehl.

Je weiter man allerdings die Kreise zieht und sich von der am Engsten involvierten Gruppe wegbewegt, findet man immer mehr Zeichen von Entfremdung. Je weniger jemand sich und auch den anderen als Teil desselben Ganzen sieht und sich mit diesem von Anfang an identifiziert, desto einfach wird es, diesen von sich abzuschuetteln. Das hat ethisch gesehen nicht zwingend mit hoeheren moralischen Prinzipien zu tun, sondern hierbei wirkt der psychologische Effekt der Distanz, und des Mitlaufens  im Mainstream der etablierten Ansichten.


 

Mein Fazit? Wie zu Beginn erwaehnt, ist meine Absicht nicht gewesen, Antworten zu geben, sondern Fragen aufzuwerfen und eine Moeglichkeit zum Nachdenken ausserhalb des gewoehnlichen Rahmens zu geben.  Der Diskurs ist nicht neu und wird immer wieder neu aufgerollt und das auch zum Guten, damit er nicht stagnieren, sondern am Leben bleiben kann. Diskussion heisst Entwicklung, heisst Leben. Man kann fast schon sagen, ein „guter Grund“, um etwas mehr Tiefe in den Diskurs zu bringen und etwas von der Territorialdiskussion ueber die Besetzung-Nichtbesetzung von Judaea und Samaria wegzukommen, die nur die Oberfläche aufgreift, aber die Identität der modernen israelisch-jüdischen Gesellschaft unbeachtet lässt.

Meiner Ansicht nach liegt der groesste Schwachpunkt des religioesen Zionismus und seiner Anhaenger in dem Bestreben, alles und alle unter sich zu vereinen und mit einzuschiessen. Die Gefahren davon sind immens, insbesondere dann, wenn man nicht gut genug durchsiebt und sich mit den „guten Fruechten“ auch die verdorbenen Reste einhandelt. Allerdings liegt in diesem Bestreben auch ein enormes Potenzial zum Guten. Und wie man bekanntlich weiss – was nicht umbringt, macht staerker.

NEWS: Anklageschriften / Die Duma-Affäre

Die ersten Anklageschriften im Fall des Attentats auf die Familie Dawabshe im Dorf Duma, Samaria, wurden veroeffentlicht. Zwei junge Maenner, Amiram Ben-Oliel (21, aus Jerusalem) und ein Minderjaehriger (17, aus Samaria), dessen Name nicht veroeffentlicht werden darf, wurden des dreifachen Mordes, des zweifachen versuchten Mordes, der Brandstiftung und der

Angeklagt: Amiram Ben Oliel / der Minderjaehrige. (Quelle:Ynet)
Angeklagt: Amiram Ben Oliel / der Minderjaehrige. (Quelle:Ynet)

Zusammenfindung zum Zwecke der Ausfuehrung rasssistischen Verbrechens angeklagt. Die Haupttaten  – Brandstiftung, Mord und versuchter Mord – werden dem 21-jaehrigen Amiram Ben-Oliel zur Last gelegt, die Vorbereitung eines rassistischen Verbrechens dem 17-jaehrigen. Die Anklage hat das Zentralgericht der Stadt Lod erhoben. Ob weitere Anklageschriften offen gelegt werdeb wuerden, ist nicht bekannt. Insgesamt spricht man von 4 Angeklagten, nicht alle scheinen aber direkt mit dem Fall zi tun zu haben, sondern auch vorheriger Verbrechen wie Brandstiftung und Vandalismus angeklagt worden zu sein. Ein weiterer Name, der offenbar mit der Affaere zu tun haben koennte, ist der von Yinon Re’uveni, allerdings wurde bisher noch keine offene Anklage bezueglich seiner Mittaeterschaft im Fall Duma erhoben, was nun bei Amiram Ben-Oliel und dem weiteren Mittaeter geschehen ist.

Im Bericht des Nachrichtenportals YNET werden die Entstehung der Idee zum Attentat, die Vorbereitung und Durchfuehrung der Tat detailliert beschrieben, und sollen in dieser Weise von Ben-Oliel waehrend der Verhaftung und der Verhoere geschildert worden sein. Ben-Oliel hat ein Gestaendnis abgeliefert.  So sei das Motiv der Tat der Mord an Malachi Rosenfeld am 29.06.15 gewesen, welcher auf dem Weg in die Siedlung Kochav Hashachar von Terroristen erschossen worden war. Ben-Oliel und der Jugendliche sollen sich bei ihren zahlreichen Aufenthalten in illegalen Vorposten – Blech- und Holzhuetten, von den Mitgliedern der sogenannten „Huegeljugend“ auf einsamen Huegeln in Samaria errichtet – kennengelernt haben. Nach dem Attentat auf Malachi Rosenfeld fanden sie sich zusammen und arbeiteten die Idee aus, den Tod von Rosenfeld zu raechen. Ihre Treffen  fanden an verschiedenen Tagen und bei verschiedenen Vorposten statt, so auch auf dem als „Baladi-Huegel“ bekanntem Berghuegel nahe der Siedlung Kochav Hashachar, wo viele der Polizei wegen Randalierungen, Vandalismus und anderen Dekreten  bekannten Jugendlichen in temporaeren Behausungen wohnten.

Die Orte auf der Karte
Die Orte auf der Karte

Der Jugendliche und Ben-Oliel hatten sich aus dem Vorposten „Yishuv Hada’at“ heraus die nahegelegenen Doerfer Duma und Majdal ins Visier genommen und planten, zwei parallele Attentate in beiden Doerfern zu verueben. Ben-Oliel sollte das Material besorgen und gemeinsam wuerden sie in der Nacht auf den 31.07 losziehen.

Der Bericht auf YNET besagt, dass aus unbekannten Gruenden der Jugendliche in dieser Nacht nicht am vereinbarten Treffpunkt, einer Hoehle unterhalb des Vorpostens mit Blick auf die Doerfer, erschien, obwohl Ben-Oliel auf ihn gewartet hatte. So war es Ben-Oliel allein, der nachts zu Fuss durch die anliegenden Plantagen ins Dorf gelangte, sich zur groesseren Abschreckung der Bewohner ein Haus in der Mitte des Dorfes und nicht am Dorfrand gewaehlt hatte und dafuer sorgte, dass das Zielhaus bewohnt war. Er selbst hatte Brennstoffmaterial, zwei mit brennbarer Fluessigkeit gefuellte Flaschen, Graffitispray und Feuerzeug sowie Lappen dabei. Nachdem er sich das Haus der Familie Dawabshe ausgewaehlt hatte, kletterte Ben-Oliel ueber den Zaun, spruehte zunaechst Graffiti auf die Waende, und suchte schliesslich nach offenen Fenstern, um die Brandbomben in diese hineinzuwerfen. Eine Brandbombe ging im leeren Anrainerhaus der Verwandten der Familie hoch und das Haus fasste Feuer. Die zweite warf Ben-Oliel gegen das Gitter des Schlafzimmerfensters von Sa’ad und Rehan Dawabshe, die Flasche zerschellte und das Zimmer fing Feuer. Anschliessend fluechtete Ben-Oliel aus dem Dorf. Wie schon zuvor berichtet, schafften es Sa’ad, Rehan und der kleine Sohn Ahmad Dawabshe, mit schweren Verletzungen aus dem Haus zu kommen; die Eltern von Ahmad starben einige Tage bzw.einen Monat spaeter im Tel Hashomer-Krankenhaus. Das Baby Ali verbrannte im Haus selbst.

Trotz der schon veroeffentlichten Details sind noch immer nicht alle zugaenglich gemacht worden; die Schilderung, so Rechtsexperten (entsprechend dem Bericht in YNET) soll erhebliche Luecken aufweisen. Ausserdem wird infrage gestellt, ob der komplizierte Hergang des Attentats inmitten des arabischen Dorfes von nur einem Taeter durchgefuehrt werden konnte und ob ein weiterer Moerder noch immer frei herumliefe. Auch der Grossvater der Familie, Hussein Dawabshe, bestritt, dass es sich um nur einen Taeter handeln koennte, aber war erleichtert, dass „ein Faden“ zu den Verantwortlichen gefunden werden konnte: „Hoffentlich wird es weiter so gehen, bis man alle findet“, sagte er im Interview mit YNET.

Das Nachrichtenportal Israel National News berichtete zudem, dass aus den Verhoeren der Festgenommenen weitere Details zu verschiedenen nationalistisch motivierten Attacken aus den vergangenen Jahren offenbart werden konnten, die zu den Verantwortlichen fuer fruehere Verbrechen fuehren wuerden: So zu der Vandalismusattacke auf die Dor Mitzion-Kiche in Jerusalem, dem Reifenstechen dutzender arabischer Wagen in Jerusalem, dem Inbrandsetzen eines palaestinensischen Taxis in Kafr Yassuf , einer Brandstiftung in einer Lagerhalle im Kafr Akraba und dem Angriff auf einen beduinischen Hirten nahe Kochav Hashachar, welche sich in diesem und vorigen Jahren ereignet haben.

(Quellen: YNET, INN)

Aktuelle Einblicke I / Die Duma-Affäre

Um ein besseres Bild von der sogenannten „Duma-Affaere“ zu erhalten, sollte ich uns alle zunaechst auf denselben Wissensstand befoerdern und die neuesten Aktualisierungen im Ermittlungsfall sowie die sich darum drehenden Ereignisse veroeffentlichen.  Kurzes Verzeichnis: 

  1. Rund um die Ermittlungen
  2. Das Hochzeitsvideo
  3. Duma-Fall – Fortsetzung
  4. Letzter Stand der Ereignisse

Rund um die Duma-Ermittlungen

Gleich zu Beginn der Woche (28.12) liessen die groesseren israelischen Nachrichtenseiten Channel 2 und YNET im Namen des Inlandsgeheimdienstes verlauten, noch in dieser Woche wuerden die ersten Anklageschriften gegen die inhaftierten Verdaechtigen im Fall Duma veroeffentlicht werden.  Dies wuerde zumindest zu einem Teil die Geruechtekueche lahmlegen, welche seit mehreren Wochen um die Verdaechtigen, ihre Identitaet und die Schwere ihrer Anklage brodelt.

Um noch einmal die bisher bekannten Fakten in Erinnerung zu rufen: Vor knapp einem Monat veroeffentlichte der Inlandsgeheimdienst Shin Bet (Shabak) eine Meldung, welcher nach die ersten Verdaechtigen im Fall der Brandbombenattacke im arabischen Dorf Duma in Samaria, bei welcher drei Mitglieder der Familie Dawabshe ums Leben gekommen waren, festgenommen seien und verhoert wuerden. Der Anschlag geschah am 31.07.15, am Ort wurden ein Hassgraffiti auf Hebraeisch sowie ein Davidsstern-Zeichen gefunden, und einige der Indizien liessen darauf hindeuten, dass es sich hierbei um eine vorsaetzliche Attacke  juedischer Extremisten handeln koennte. In diese Richtung ermittelte auch seit einem halben Jahr die Abteilung fuer juedisch-nationalistische Verbrechen des Shin Bet.

In den Verhoerraeumen des Shin Bet wurden seit etwa einem Monat mehrere Verdaechtige festgehalten und verhoert, es handelte sich um ein knappes Dutzend, davon einige Minderjaehrige (offizielle Angaben wurden nicht gemacht). Die Verdaechtigen wurden von Anwaelten der Menschenrechtsorganisation „Honenu“ vertreten, welche sich verstaerkt fuer Israelis aus der Siedlerbewegung einsetzt. Alle Festgenommenen befanden sich in sogenannter Administrativhaft, welche verhaeuft bei palaestinensischen Tatverdaechtigen angewandt wird und die es ermoeglicht, bestimmte Personen, die in einen Tathergang involviert sind bzw. wichtige Informationen zu Terrorverbrechen besitzen, ohne Anklage, Prozess oder Zugang zum Anwalt fuer eine bestimmte Zeit festzunehmen und zu verhoeren. Dabei gibt es im israelischen Recht das Prinzip der Sonderregelung fuer sog.„Tickende Zeitbomben“, wobei Verdaechtige, die direkt in Anschlaege verwickelt sind bzw. Informationen besitzen, deren Freigabe die unmittelbare Rettung von Menschenleben bewirken kann, auch unter Einsatz von starkem physischen und psychologischen Druck verhoert werden koennen.

Vor etwa anderthalb Wochen wurde in den ersten Medien der Verdacht geaeussert, die Verdaechtigen wuerden von den Ermittlungsbeamten waehrend der zahlreichen Verhoere gefoltert werden.  Die Meldung erreichte schnell die israelischen Mainstreammedien und wurde grossflaechig aufgerollt. Die Anwaelte der Organisation „Honenu“, welche erst 21 Tage nach der Inhaftierung mit den Verdaechtigen sprechen konnten, schilderten vor laufenden Kameras die Details der brutalen Behandlungen, welche ihrer Behauptung nach ihre Mandanten erlitten haben sollten. Saemtliche oeffentliche Personen, von Knessetmitgliedern bis religioesen Autoritaeten und Journalisten aeusserten sich zu dem Verdacht, ebenso israelische Menschenrechtsorganisationen wie ACRI. Die meisten von ihnen verurteilten eine moegliche Anwendung von Terror unter Vorwand des Gestaendniseinholens. Andere wandten sich allerdings gegen den Verdacht und die aufkommenden Anschuldigungen gegen die Vorgehensweise des Shin Bet. (Mehr darueber kann in diesem Artikel nachgelesen werden.)

Waehrend die Presse lebhaft das Thema diskutierte, wurden innerhalb der religioes-zionistischen Gemeinschaft

Protest gegen die Folter. Tel Aviv (Quelle: Ha'aretz)
Protest gegen die Folter. Tel Aviv (Quelle: Ha’aretz)

von Aktivisten, zumeist Freunden und Bekannten der Verdaechtigen, Demonstrationen fuer die Freilassung und die Untersuchung des Folterverdachts organisiert. Sie verteilten Flugblaetter, welche zumeist den Slogan „Ein Jude foltert keinen Juden“ als zentrales Statement brachten. Einige der Vorsitzenden der Bezirksregierungen in Judaea und Samaria wandten sich mit einem Protestbrief an Premierminister Netanyahu. Knessetabgeordneter Bezalel Smotritch („Juedisches Heim„) aeusserte sich zum Thema mit der These, es existiere in Israel per definitionem kein  „juedischer Terror“, da Terror in diesem Fall einen feindlichen Angriff auf den Staat und die Gesellschat bedeuten wuerde, die juedischen Mordverdaechtigen aber nicht als Feinde, sondern als gewoehnliche Verbrecher gewertet werden sollten (INN). Er bekam starken Gegenwind aufgrund seiner Aussagen, auch aus seiner eigenen Partei.

Im Laufe der Tage folgten Rueckmeldungen von Politikern, so dem Erziehungsminister und Vorsitzenden der religioes-zionistischen Partei „Juedisches Heim“ Naftali Bennett, dem stellvertretenden Verteidigungsminister Eli Ben Dahan und der Justizministerin Ayelet Shaked (beide Parteiangehoerige von „Juedisches Heim“), welche sich zusammen mit Premierminister Binjamin Netanyahu an die Seite des Inlandsgeheimdienstes stellten und den Folterverdacht abwiesen.  Sowohl Bennett als auch Shaked beteuerten in ihren Aussagen, sie haetten nach Veroeffentlichung des Verdachts Anfragen an den Justizberater der Regierung sowie die zustaendigen Stellen des Shin Bet gestellt, welche den Ermittlungsprozess ueberwachten, und Nachforschungen in die Wege geleitet. Aus diesen haette sich ergeben, dass der Shin Bet nach Recht und Gesetz gehandelt habe, auch gegenueber den inhaftierten Minderjaehrigen.

Die Jerusalem Post zitierte am 22.12. den Minister Bennet folgendermassen:

„So wie ich dem Shin Bet vertraue, wenn er die Moerder von Juden jagt, so vertraue ich ihm auch in diesem Fall  – aber nicht ohne nachzupruefen und nachzufragen, und genau das tue ich auch. (…) Wenn man eine schlafende Familie verbrennt, so ist das ein Terroranschlag. Bei einem Terroranschlag tut man alles, was man kann, um die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Man tut alles, im Rahmen des Gesetzes.“

Ebenso kommentierte Bennett die Proteste, vor allem aus den Reihen der Siedlerbewegung, welche gegen den Shin Bet aufgekommen waren:

„Du kannst nicht verleugnen, was vor deinen Augen passiert, weder die „Price Tag“-Aktionen (Vandalismus-Vorfaelle seitens juedischer extremer Gruppierungen, welche mit der sogennanten „Huegeljugend“ assoziiert werden, Anm.DS), noch die Morde in Duma, noch den Mord des Jungen (Mohammed Abu Khdeir) in Jerusalem. Es gibt dort eine neue Herangehensweise, welche von einigen gestoerten Anarchisten verfolgt wird in der Absicht, die Verbindung zwischen dem juedischen Volk und dem Staat Israel zunichte zu machen. (…) (Diese Herangehensweise ) ist das komplette Gegenteil von dem, wonach religioeser Zionismus gestrebt hat, seit er von Rabbiner (Avraham Yitzhak) Kook ins Leben gerufen wurde.“

Premierminister Netanyahu liess verlauten, die laute „Hetze“ der rechtsgerichteten Organisationen und oeffentlichen Personen gegen den Inlandsgeheimdienst, welcher sich pausenlos fuer die Sicherheit der israelischen Buerger einsetze, waere nicht akzeptabel. In sozialen Netzwerken wurde Bennett vielfach als Marionette des Shin Bet beschimpft und seine Aussagen als Verrat an der Loyalitaet zu „seiner Waehlerschaft“ aufgenommen. Es folgten sogar Drohungen, sodass am 26.12. Channel 2 und weitere Medien berichteten, dass die Bewachung um Bennett verstaerkt werden wuerde.


Das Hochzeitsvideo

Videoausschnitt. Quelle: Mako
Videoausschnitt. Quelle: Mako

Am 23.12. veroeffentlichte das israelische Channel 10 als Erstes ein Video von einer religioesen Hochzeit in Jerusalem, in welchem man eine grosse Menge feiernder Maenner, jung und alt, sehen konnte, welche im Saal zu einem Lied mit einem religioesem Rachemotiv mit erhobenen Gewehren, Pistolen, Messern und sogar einer Brandbomben-Attrappe in den Haenden voller Euphorie tanzten und sangen. Im Video ist ausserdem zu sehen, wie ein mit Kapuze bedeckter Tanzender das Bild des ermordeten Babies Ali Dawabshe hochhielt und es nach einigen Minuten Tanz

Quelle: Ynet. Im roten Kreis: Das Bild von Ali Dawabshe
Quelle: Ynet. Im roten Kreis: Das Bild von Ali Dawabshe

mit einem Messer durchstach. Die Hochzeit, die in Wirklichkeit einige Wochen vor Veroeffentlichung des Videos stattgefunden hatte, bekam schnell den Titel „Die Hasshochzeit“ verpasst und loeste eine Furore aus. Von allen Seiten des politischen Spektrums hoerte man schockierte Rueckmeldungen. So kommentierte der Knessetabgeordnete Bezalel Smotritch („Juedisches Heim“), welcher zuvor erklaert hatte, es wuerde sich beim Mord in Duma nicht um um einen Akt des Terrors handeln:

„Widerlich. Die boese Ideologie der „Price Tag“-Attacken ist nicht der Leitweg des religioesen Zionismus, Punkt. Wer das nicht versteht, der soll sich das Video ansehen, das Channel 10 veroeffentlicht hat. (…)

Dieser seltsame Tanz mit dem Bildnis des im Schlaf getoeteten Babies repraesentiert eine gefaehrliche Ideologie und den Verlust der Menschlichkeit. Es ist unsere Aufgabe, diese Ideologie und dieses Verhalten auf schaerfste Weise zu verurteilen und klarzumachen, dass es nicht Teil der Siedlerideologie und des religioesen Zionismus ist, und ebenso keinen Teil im Rahmen der legitimen demokratischen Ausdrucksfreiheit im Staat Israel darstellt.“

Ein Hochzeitsbesucher und offenbar Anhaenger der radikalen Kach-Partei. (Quelle: Mako)
Ein Hochzeitsbesucher und offenbar Anhaenger der radikalen Kach-Partei. (Quelle: Mako)

Bei der besagten Hochzeit wurden die Kinder der Familien Aschbal und Goldberg getraut. Beide Familien waren in der extremen Szene innerhalb der Siedlerbewegung bekannt. Einer der geladenen Gaeste, welchen man im Clip erkennen konnte, war der Anwalt Itamar Ben Gvir aus der Organisation „Honenu“. Als dieser in einem Interview nach der Enthuellung zur Rede gestellt wurde – insbesondere angesichts der „Messerattacke“ im Video auf das Abbild von Ali Dawabshe, sagte er (NRG):

Rechtsanwalt Itamar Ben Gvir. Quelle: INN
Rechtsanwalt Itamar Ben Gvir. Quelle: INN

„Das ist eine dumme Tat, aber ich verstehe nicht, warum man von jetzt an die gesamte ‚Huegeljugend‘ fuer diesen Tanz verantwortlich machen will. Wenn ein Araber ein Attentat gegen einen Juden ausuebt, im Vergleich zu einem daemlichen Tanz, dann kommen und sagen uns alle Linken, verallgemeinert nicht, macht nicht alle zu Schuldigen. Und hier werden prompt alle ‚Huegeljugendlichen‘ schuldig gesprochen, und ein ganzer Chor von Heuchlern, der mit Freundschaftsumarmungen auf Abu Mazen (Mahmud Abbas) zulaeuft, der Strassenkreuzungen nach Selbstmordattentaetern benennt, schreit hier den Schrei des beraubten Kosaken.“

Ausserdem behauptete Ben Gvir, er habe aus der Entfernung, wo er getanzt habe, das Bild und das Messer nicht sehen koennen. Zudem fuehrte er an, dass die Tatsache, dass private Aufnahmen einer Hochzeit vom Inlandsgeheimdienst und den Sicherheitskraeften konfisziert worden waren, um diese anschliessend der Presse zu uebergeben, eine zivilrechtliche Klage nach sich ziehen koennte. Das Schlimmste aber, so Ben Gvir, sei, dass durch das passende Timing der Veroeffentlichung von der Folteraffaere abgelenkt werden wuerde, um diese ungestoert fortsetzen zu koennen.

In den Tagen nach der Veroeffentlichung offenbarten sich weitere Details zu dem Hochzeitsvideo, welches auch „Bluthochzeit“ von manchen Medien genannt wurde. Diese brachten allerdings mehr zur Verwirrung als zur Klaerung des Falls bei, da das offizielle Narrativ der „gewalttaetigen Extremistenhochzeit“ nun von Details angefochten wurde, die eher auf andere Moeglichkeiten hindeuteten:

So enthuellte man in den News-Outlets von Ynet und Kikar Hashabat den Inhalt mehrerer SMS, welche der Vater des Braeutigams, Shachar Aschbal, und ein Shin Bet-Koordinator noch am Tag der Hochzeit ausgetauscht hatten. Der Koordinator beglueckwuenschte ihn. Der Vater bat diesen, nicht mit einer Vermummungsmaske zur Hochzeit zu kommen, weil dort auch aeltere Menschen dabei seien. Dieser erwiderte, der Vater solle nicht zuviel trinken. Darauf der Vater: „Maximum wirst du mich nach Hause bringen, du muesstest ja wissen, wo ich wohne.“

Ausserdem wurde in einem anderen Beitrag der Saalbesitzer in Jerusalem interviewt, und dieser berichtete, waehrend der Hochzeit seien in den Saal mehrere dutzend Shin Bet- und Polizeibeamte in Zivil gestroemt und waeren bei dem besagten gefilmten Tanz dabei gewesen, haetten allerdings nichts unternommen.

⇒ Wie lautete die Rueckmeldung des Shin Bet auf die Enthuellung der SMS?

„Im Zuge der regulaeren Vorgaenge zur Terrorvermeidung halten Shin Bet-Beamte von Zeit zu Zeit Kontakt zu den Familien der Verdaechtigen, welche bei gewalttaetigen und radikalen Aktivitaeten auffaellig werden. Das wird getan, um durch deren Unterstuetzung die Aktivitaet der Verdaechtigen zu maessigen und diese zu normativem Verhalten zu fuehren.“

◊◊◊

Auch die Rueckmeldungen der Familien wurden in der Presse veroeffentlicht.

⇒ Das hatten die Eltern des Brautpaares zum Hochzeitsvideo zu sagen:

Lenny Goldberg, Vater der Braut (eine Audioaufnahme mit dem Inhalt wurde den Walla!-Nachrichten zugespielt, 24.12.15):

„Die ganze Angelegenheit mit der Hochzeit diente dazu, den Shin Bet aus der Patsche zu helfen, um die Jugendlichen weiter zu quaelen. Die oeffentliche Meinung war gegen den Shin Bet, und die Hochzeit soll jetzt alles legitimieren, was sie tun. Das ist alles euer Spiel, um ihr Blut fliessen zu lassen. Ich habe mit allen getanzt, in Freude, ich habe an nichts gedacht. Denkst du, das sei die einzige solche Hochzeit? Ja, Juden koennen auch manchmal Kaempfer sein, sie sind nicht immer die Verlierer, die sterben muessen.

– Das war spontan (das Foto von Dawabshe und das Messer? Unklar, Anm.DS), es gab ein Programm – eine Band, die Hochzeitszeremonie und ein Tanz mit den Waffen. Was ist so schlecht an Waffen? Was, Juden koennen nicht mit einer Waffe sein, sie muessen immer mit einem Messer im Ruecken sein? (…) Nein, ich denke nicht, dass das in Ordnung gewesen ist (das Messer im Foto), aber Duma ist mir egal. Mich interessieren Juden, die tagtaeglich umgebracht werden, wie heute und gestern auch. Was ist deine Obsession mit Duma und mit Arabern? Was ist mit all den Juden, die umgebracht werden? Dich interessiert das Baby von Duma? Mich interessiert es nicht, mich interessieren die Juden, die umgebracht werden. Und weil sie umgebracht werden, erheben sich Leute, um etwas zu tun, was die Armee tun sollte, wenn sie es denn getan haben. Ich weiss das nicht. 

Wenn sie es denn getan haben, dann sind sie nicht anders als die Volkshelden von damals, die Leute von der Etzel, von der Lechi (Untergrundorganisationen vor der Staatsgruendung), die das Gesetz in die Hand genommen haben, als juedisches Blut vogelfrei gewesen ist. (…) Ich entschuldige mich nicht, ich verurteile nicht. Ich bin keiner, der verurteilt.“

 

Shachar Aschbal, Vater des Braeutigams (Armeeradio, 24.12.15):

„Wir fuehlen uns sehr bedraengt. Man hat unsere Privatspaehre verletzt, das war eine private Veranstaltung. Das ist ein elendes Video, es repraesentiert nicht unsere Anschauungen und wir verurteilen es. (…)

An diesem Abend hatte ich nicht mitbekommen, was vor sich ging, ich ging um die Gaestetische herum, es war ein gluecklicher Tag, das ist unser erster Sohn gewesen, den wir verheiratet haben. Im Nachhinein habe ich von den Anwesenden gehoert, es waere das und das gewesen; ich habe Gaensehaut bekommen und sagte auch, haette ich das gewusst, haette ich es gestoppt. Das war ein solches Lied, ein aufruehrerisches Lied, das zur Rache aufruft, es stammt von Samson aus dem Buch der Richter. Das Lied wird auch auf saekularen Hochzeiten gespielt; und das Ganze in der Atmosphaere der letzten Tage… (…) Ich war selbst sehr ueberrascht. Das war ein solches Lied und alle anderen waren normal, das war eine Sache von 2 Minuten.

Radio: Hattest du gesehen, wer das Bild und das Messer gehalten hat?

Ich habe nichts gesehen. Es waren viele Jugendliche, wir kannten einen Teil nicht. 

Radio: Das waren eure Gaeste, ihr kanntet sie nicht

Ueberhaupt nicht, es kamen Jungen von ueberall her, sogar mein Sohn meinte, er kenne viele von denen nicht. Es kann sein, dass es waehrend des Events provoziert wurde. (…)

Radio: Es wurden auch Gewehre gehoben, hattest du das nicht gesehen?

Ich hatte nichts mitbekommen, ich war ganz in meine Freude vertieft. Aus der Ferne habe ich gesehen, wie Schilder hochgehalten wurden, ich dachte, es waeren Schilder mit den Bildern der Festgenommenen oder der letzten Terroropfer gewesen. (…) Im Nachhinein hatte uns das keine Freude gemacht, wir waren sehr wuetend darueber. Aber ich habe das Gefuehl, dass jemand das mit schlechten Absichten veroeffentlicht hat, absichtlich, um Schaden zu bewirken. Das war unsere private Veranstaltung. 

Radio: Bei allem Respekt fuer eure Privatsphaere, aber vielleicht war es wichtig, dass  man das gesehen hat und weiss, dass es dieses Phaenomen gibt, denkst du nicht? 

Ja, es handelt sich hier um einige Wenige, die Dinge tun, die nicht ehrenhaft sind. Aber man macht davon nun Gebrauch, um alle damit schlecht zu machen und zu verallgemeinern. Das ist nicht in Ordnung. (…) Einen Teil kannten wir, einen anderen nicht, das war in einer Situation der Begeisterung, der Extase, jede Hochzeit kennt diese Extasen. Aber der Rest der Hochzeit verlief entspannt, mit schoenen Liedern. Man nutzt das jetzt, um gegen eine bestimmte Gemeinschaft zu hetzten, vielleicht, um von der Folteraffaere abzulenken…

Radio: Weisst du, ob das auch auf anderen Hochzeiten stattfindet, nur wird das dort nicht oeffentlich?

Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass speziell dieses Lied so eine Erregung hervorruft. Man sagte mir auch, das wuerde auch einen Effekt bei nichtreligioesem Publikum haben. (…) Ich habe es wirklich nirgendwo mehr gesehen, ich bin ehrlich. Wir sind normative Menschen, wir haben moralische Werte, wir dienen in der Armee, lieben den Staat, haben uns fuer ihn aufgeopfert, es repraesentiert uns nicht. Man hat hier Rufmord begangen, unseren Namen schlecht gemacht, und das ist nicht fair. Es gibt so etwas wie Privatsphaere. (…) Es tut weh, dass man sich mit diesen Aufnahmen jetzt mehr beschaeftigt, anstatt auch ueber andere Dinge zu berichten, beispielsweise ueber aktuelle Terrorattacken. (…)

Radio: Aber verstehst du, was fuer Entsetzen das ausloest, wenn man sich diese Aufnahmen anschaut?

Es tut uns weh, wir entschuldigen uns, wir verurteilen es. Wir sind wuetend auf diejenigen, die es ohne unser Wissen getan haben.

Radio: Man nennt es schon „Die Bluthochzeit“.

Das schmerzt sehr! Das ist die Hochzeit meines Sohnes, man will, dass es Freude bereitet. Menschen lieben es nunmal, auf dem Blut von anderen zu tanzen! Und zu unserem Leidwesen, anstatt zu uns zu kommen und uns zu stuetzen und zu sagen, wir wissen, es ist nicht leicht, es war nicht unsere Schuld, gehen Juden hin und nennen es „die Bluthochzeit“.

◊◊◊

Wie das Portal NRG heute (29.12) berichtete, wurde mittlerweile der erste Verdaechtige aus dem „Hochzeitsvideo“ festgenommen. Er soll aus der Siedlung Kfar Tapuach stammen. Nachdem das Video ans Licht gekommen war, hatten die Polizei aus der Judaea und Samaria-Abteilung sowie die Armee Ermittlungen eingeleitet, um den ihrer Aussage nach den „zahlreichen Gesetzeswidrigkeiten“, die im Videoclip zu sehen waren, nachzugehen – darunter das Weitergeben von Feuerwaffen in die Haende von Jugendlichen, und die Anstiftung zu Hass (Ha’aretz, 24.12.15).


Duma-Fall – Fortsetzung

Zurueck zum Duma-Fall. Bisher hatte sich der Shin Bet einer Stellungnahme bezueglich seiner Verhoermethoden im Fall Duma enthalten. Am 24.12. brachten die Zeitung Ha’aretz, ebenso wie Ynet und andere Medien die erste offizielle Aeusserung des Inlandsgeheimdienstes. In dieser wies der Shin Bet die Anschuldigung der Anwaelte von „Honenu“  von sich, die Verdaechtigen waeren  erniedrigt, angespuckt oder sexuell belaestigt worden und es waere ein Suizidversuch von einem der Inhaftierten vorgenommen worden (Ha’aretz). Allerdings gab er zu, dass einige der Verdaechtigen nach der Sonderregelung der „Tickenden Zeitbombe“ verhoert wurden, mit allen daraus folgenden Konsequenzen in Druckanwendung waehrend der Verhoere (siehe Erklaerung oben). Waehrenddessen traf sich auch der stellvertretende Justizberater der Regierung, Raz Nazri (Interview mit ihm auf Deutsch hier), mit den Verdaechtigen.

Im Laufe der gesamten letzten Tage forderten die Familien und Verwandten der Verdaechtigen von den offiziellen Stellen, einen unabhaengigen Untersuchungssausschuss zu den Folteranklagen aufzustellen (Channel 2, NRG).

Am Abend des 27.12 wurde ich Zeugin einer Demonstration auf der King George-Strasse in Jerusalem. Erwachsene, Jugendliche und 1045115_10154000618716842_6876299559811281072_nKinder, an ihrem Aeusseren als nationalreligioes zu erkennen, standen  an der Ampel Ecke King George-Strasse und Ben Yehuda-Passage, hielten Plakate hoch, auf welchen in Rot und Schwarz „Ein Jude foltert keinen Juden“, „Es gibt keinen juedischen Terror, sondern einen arabischen Terror“ und „Wir sind alle Brueder“ geschrieben stand. An einem Baum war ein Schild angelehnt, auf dem geschrieben stand, “ wir wollen einen Staat nach der 10012496_10154000618521842_5733765269339165516_nTora!“, aber dieses wurde offenbar nicht zugelassen, um Provokationen zu vermeiden. Einige hielten Reden. Ein lokaler Bettler stand auf der anderen Seite der Strasse und schrie auf die Demonstranten ein, sie wuerden gegen den Staat Israel vorgehen und seien alle insgesamt Boesewichte.

Die Demonstration verlief friedlich. Ich stellte mich zu einigen der 1936538_10154000618846842_1934651845488239411_nJugendlichen hin und wir verfielen in eine Diskussion ueber die Legitimation der Folter gegenueber der Schwere des Tatverdachts. Die Maedchen, mit welchen ich sprach, beteuerten mir voller Eifer, sie und ihre Bekannten wuerden zuverlaessige Quellen haben, welche die Folter bestaetigten. Ausserdem koennten sie nicht glauben, dass es tatsaechlich Juden gewesen waren, und dass die Indizien gegen dies sprechen wuerden. Sie waren sich nicht einig, ob bei besonders schweren Verbrechen nun Foltermethoden zur Lebensrettung angewandt werden sollten oder nicht, und sagten, es wuerde sich hier nicht um einen solchen Fall handeln. Ausserdem zeigten sie eine generell negative Grundeinstellung dem Shin Bet und den entsprechenden Organen gegenueber, welche, so sagten sie, sowohl in der Vergangenheit als auch jetzt Anschuldigungen fabrizieren und Gestaendnisse erzwingen wuerden.

◊◊◊

Was zunaechst als verantwortungslose Verleugnung der Realitaet klingen mag, laesst sich durchaus nicht ganz so leicht aus der Welt raeumen. Auch die bekannte Jerusalem Post-Publizistin Caroline Glick („The One State Solution“) ging in ihrer Kolumne „Israels hausgemachte Feinde“ am 24.02 gegen den Folterverdacht auf die Tatsache ein, dass in der Vergangenheit mehrfach bekannt geworden war, dass der Shin Bet internen Anweisungen zufolge V-Leute als Provokatoren einsetzte und Aktionen inszenierte, um auf deren Basis gegen unliebsame Kritiker in der nationalreligioesen Szene vorzugehen. Eins solcher Beispiele, so schrieb Glick, war die juedische Pseudo-Terrorgruppe namens

Agent Avishai Raviv ("Champagne") auf einer Anti-Rabin-Demonstration 1994. Quelle: News1
Agent Avishai Raviv („Champagne“) auf einer Anti-Rabin-Demonstration 1994. Quelle: News1

„Eyal“, welche von Shin Bet-Agent Avishai Raviv (Code-Name: Champagne) in 1994 zusammengestellt wurde, zu einer Zeit, als das nationalreligioese Lager vehemente Kritik an den Oslo-Vertraegen uebte und sich gegen diese stellte. Auch das beruehmte Bild von PM Yitzhak Rabin mit einer Naziuniform bei einer Anti-Oslo-Demonstration  war das Handwerk Avishai Ravivs. Die Organisation flog auf, ebenso wurde die Identitaet Ravivs enthuellt. In ihrem Text verurteilte Glick allerdings mit aller Schaerfe die Versuche, die „auf eigenem Mist gewachsenen“ Extremisten und Feinde des israelischen Staates mithilfe der Folteranklagen als die eigentlichen Opfer darzustellen.


 

Zum letzten Stand der Ereignisse:

Gestern (28.12) wurde die erste offizielle Anklageschrift gegen einen der Verdaechtigen veroeffentlicht (NRG). Allerdings handelte es sich dabei nicht etwa um den Fall Duma, sondern einen schon laenger her liegenden Fall von einer angeblichen gewalttaetigen Auseinandersetzung des Angeklagten mit einem Polizeibeamten. Dem Angeklagten wurde Hausarrest verordnet. Nach Angaben von „Honenu“ wurde er 29 Tage festgehalten, von welchen er 17 Tage lang keinen Anwalt sehen durfte.

In der Familie und in der Organisation „Honenu“ reagierte man empoert auf die Wendung der Ereignisse:

„Nach 30 Tagen, in welchen unser 17-jaehriger Junge brutale Quaelerei erlitten hat, welche auch Erniedrigungen und Gewalt beinhaltete, stellte sich heraus, dass unser Sohn in einem alten Fall angeklagt wurde. Die gesamte Rechtfertigung, welche der Shin Bet fuer sich einholte, um unseren Jungen zu quaelen, als sei er des Mordes in Duma verdaechtigt gewesen, beweist unsere Behauptung, dass der Shin Bet Gebrauch von Luege und Betrug gemacht hat, und das gegenueber dem gesamten Rechtswesen und der Obrigkeit. Wir fordern erneut, dass ein parlamentarischer Ausschuss in Beisein von Abgeordneten die Grausamkeit und den Betrug der ‚juedischen Abteilung‘ des Shin Bet untersuchen soll (…)“.

 

 

 

Zum aktuellen Diskurs / Die Duma-Affäre

Liebe Leser/-innen,
 
in den letzten Tagen und Wochen kommt die israelische Öffentlichkeit angesichts der Nachrichten nicht zur Ruhe, die rund um den Anschlag auf das Dorf Duma und die Affäre um den jüdischen Terror kreisen. Immer neue Meldungen, Beanstandungen, Gerüchte und Diskussionen füllen die Zeitungen und die sozialen Netzwerke, und die sowieso schon recht diskussionsfreudige israelische Gesellschaft kocht.
 
Den ersten ausführlichen Beitrag zum Thema habe ich vor einigen Tagen veröffentlicht, darin habe ich mich auf das Gerücht bezogen, dass die jüdischen minderjährigen Terorverdächtigen seitens des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet gequält werden würden. Ich habe einige Positionen dargestellt und Quellen erbracht, damit sich jeder Leser anhand der angeführten Informationen eine eigene Meinung bilden konnte.
 
Der nächste Beitrag, inklusive der neuesten Updates zum Thema, zusammengefasst und sortiert, wird schon vorbereitet und mein Ziel wird es darin sein, Fragen aufzuwerfen.
Zunächst einmal ist dieses Thema für  die Israelis und insbesondere auch für die Anhänger der Siedlerbewegung sowohl brenzlig als auch komplex und kompliziert. Die Diskussion darum und insbesondere, was die Konsequenzen aus der Affäre anbelangt, ist eine interne Angelegenheit der israelischen Gesellschaft innerhalb jeden politischen Spektrums, und darüber hinaus auch eine interne Diskussion innerhalb der nationalreligiösen Kreise.
Dennoch, gerade in meiner Rolle als „Türöffnerin“ (nicht Türsteherin!) in die Welt der Siedlerbewegung und der nationalreligiösen Gemeinschaft, finde ich es wichtig, auch euch am Teil dieses Diskurses teilhaben zu lassen.
Ich sehe ein, dass das eine große Herausforderung vor mich stellt. Ich selbst bin erst relativ seit Kurzem mit der Thematik in Berührung gekommen und habe tiefere Einblicke gewinnen können.
Das vorneweg, muss ich ein überaus heikles Thema, welches aus vielen Schichten besteht und nicht erst seit heute relevant ist, aber leider auf eine böse Weise relevant geworden ist, an ein Publikum bringen, dem es zumeist an wichtigem Hintergrundwissen mangelt, um den Kontext der letzten Ereignisse zu verstehen und die Entwicklungen, die dazu führten, einzuschätzen; ein Publikum, welches nicht am Diskurs teilhaben kann aufgrund der Sprachenunkenntnis;  welches nicht die gesamte und auch nicht die halbe Meinungspalette kennt, die in dieser Diskussion (über den jüdischen Terror; über die Motivation, den Einfluss oder auch die Vor- und Nachteile der Aktivitäten der Siedlerbewegung) zum Vorschein treten. 
Ein Publikum also, dem die Basisgrundlagen fehlen, das Thema gebührend einzuschätzen, welches aber wohl informiert werden möchte – und welches ich selbst informieren will, zwecks meiner selbstauferlegten Aufgabe als Bloggerin und Journalistin.
Ich persönlich lege keinen Wert darauf, meine eigene Meinung breitzulegen, weil von ihr niemand etwas haben wird; und auch keine Statements abzugeben, die es nicht weiter bringen, als das allgemein Gültige  und Bekannte zu konstatieren. Stattdessen halte ich viel vom Fragenaufwerfen, von Darstellungen einer Meinungspalette aus dem „Inneren“ unserer Gesellschaft heraus, von dem Aufbringen verschiedener Narrative und deren Erklärung. Selbstverständlich ist und wird alles durch meine Sicht gefärbt sein, da ich bin, die es innerlich verarbeitet und aufs Papier bringt. Dennoch werde ich immer wieder versuchen, dieses Mal und auch in Zukunft, so unmittelbar wie es nur geht euch an Quellen und Ansichten teilhaben zu lassen – nach meinem besten Wissen und Gewissen.
Es ist zu erwarten, dass im Laufe der Woche neue Erkenntnisse zu speziell dieser Affäre – der „Duma-Affäre“ – ans Licht kommen werden, und bestimmte Aussagen nicht mehr aktuell sein werden. So ist es in diesem Milieu der Berichterstattung – manchmal kann man mit dem Rhythmus nicht standhalten. Aber die Diskussionen, welche entstehen, haben eine längere Lebensdauer und eine größere Wichtigkeit als die Fakten an sich. Sie sind es, welche im Endeffekt die Natur einer Gesellschaft prägen.
Ich wünsche uns allen in diesem Sinne Geduld, und möglichst viel innere Offenheit und Verständniswillen, und eine rege Diskussion, wie sie schon zum Glück bei einigen meiner letzten Beiträge stattfindet (worüber ich persönlich sehr erfreut bin).
Mir liegt dieses Thema, sowie die gesamte „Welt der Siedler“, deren Teil ich momentan darstelle, sehr am Herzen, und deshalb gehe ich hierbei mehr in die Tiefe als in die Breite.
Wem es ebenso am Herzen liegt oder auch nur interessiert – seid dabei und bleibt dran.
Chaya

Im Gefängnis gefoltert? Die Duma-Affäre

In den letzten Tagen und Wochen erregt eine Affäre von besonderer Bedeutung die Gemüter, insbesondere innerhalb der religiös-zionistischen Gesellschaft und der Siedlerbewegung. Sie findet allerdings auch Rückklang innerhalb der israelischen Mainstream-Medien und in den sozialen Netzwerken mehren sich Berichte und Gerüchte und verbreiten sich wie Lauffeuer.

Dabei geht es nicht mehr und nicht weniger als um einen brutalen Verstoß gegen die demokratische Gesetzesordnung des Staates Israel:

Es verstärkt sich von Tag zu Tag der Verdacht, dass einige der festgenommenen Verdächtigen im Fall des Brandbombenanschlags auf die Familie Dawabshe im Dorf Duma (DieSiedlerin.Net berichtete am 03.12.15  über neue Entwicklungen im Ermittlungsfall), darunter mehrere Minderjährige, offenbar aus dem Milieu der sogenannten „Hügeljugend“ (Hilltop Youth), während der Administrativhaft und der Verhöre durch den Inlandgeheimdienst Shin Bet (Shabak)

Ein Jugendlicher der sogenannten "Hügeljugend" in Haft. Illustration. (Quelle: Rotter)
Ein Jugendlicher der sogenannten „Hügeljugend“ in Haft. Illustration. (Quelle: Rotter)

misshandelt wurden. Die Verdächtigen, deren Identität  vom Inlandgeheimdienst nicht preisgegeben wird, werden seit mehreren Wochen ohne Anklage in den Haftanstalten des Shin Bet festgehalten. Dem ist so, seit die Anwendung der Administrativhaft (bei welcher Terrorverdächtige ohne Anklage und Prozess und auf Basis einer erneuerbaren richterlichen Erlaubnis inhaftiert werden dürfen), nach dem Anschlag in Duma verstärkt bei jüdischen Terrorverdächtigen angewandt wird.

Ein halbes Jahr lang hatte die israelische Öffentlichkeit auf Entwicklungen im Falle des Mordes an Sa’ad, Reehan und Ali Dawabshe gewartet, wobei Regierungs- und Sicherheitsvertreter (darunter auch der Verteidigungsminister Moshe Ya’alon) schon kurze Zeit nach dem Anschlag verlauten ließen, ihnen sei die Identität der mutmaßlichen Täter bekannt; doch eine offene Anklageschrift könne aus Gründen des Informations- und Informantenschutzes nicht getätigt werden. Alles Weitere hielt sich im Dunkeln und an die Öffentlichkeit drangen nur Gerüchte und Spekulationen. Bis nun vor etwa drei Wochen die ersten offiziellen Meldungen über „dramatische Entwicklungen“ im Fall veröffentlicht wurden und es bekannt gegeben wurde, dass jüdische Verdächtige im Zusammenhang mit dem Fall vom Shin Bet festgehalten und verhört werden.

Nun sind den Medien und privaten Quellen (darunter Bekannten, Nachbarn und Verwandten mancher der Verdächtigen) zufolge mehrere, wenn nicht gar die überwiegende Mehrheit der Festgenommenen Minderjährige, gegen welche nach ihrer Inhaftierung vor drei Wochen bis einem Monat im Rahmen der Administrativhaft noch keine Anklageschrift erhoben wurde. Erst

"Honenu" (wörtl. "Erbarme dich unser"). Im Untertitel steht: 'Organisation für nationale Rechtsverteidigung'
„Honenu“ (wörtl. „Erbarme dich unser“). Im Untertitel steht: ‚Organisation für nationale Rechtsverteidigung‘

nach mehreren Wochen hatten die Anwälte der Betroffenen aus der Rechtsvertretung der Menschenrechtsorganisation „Honenu“ mit den Inhaftierten sprechen und so über die Haftzeit und die Behandlung durch die Untersuchungsbeamten des Shin Bet erfahren können. Weitere Informationen stammten, laut Veröffentlichungen in Medien wie bei Channel 7, Makor Rishon, NRG/Ma’ariv, von Gefängnisärzten und aus Berichten von Vorladungen der Verdächtigen vor internen Gerichten.

Zuvor lauteten die Anschuldigungen gegen eine widerrechtliche Behandlung der Verdächtigen noch scheinbar recht harmlos: Es wurde behauptet, die Jugendlichen würden von bestimmten religiösen Ritualen wie dem Gebetsriemen-Anlegen oder dem Kerzenzünden an Chanukka abgehalten werden. Die Sprecher des Shin Bet so wie auch der stellvertretende Rechtsberater der israelischen Regierung, Rechtsanwalt Raz Nazri (NRGMakor Rishon, 18.12.15), wiesen die Anschuldigungen zurück und verwiesen auf die Schwere des Verbrechens, welches aufzuklären sei. Aufgrund dessen erfordere es besondere Härte und Nachhaltigkeit bei der Untersuchung, unter Anwendung von Ausnahmeregelungen.


 

Zu Beginn dieser Woche jedoch, am 20.12., fand eine Pressekonferenz der Organisation „Honenu“ statt, auf welcher die von den Verteidigern der Verdächtigen gesammelten Berichte zu einer größeren Präsentation zusammengefasst und der Presse vorgetragen wurde. Da lauteten die Anschuldigungen schon wesentlich anders:  Laut Aussagen der Anwälte wurden die Jugendlichen inhumanen Haft- und Verhörbedingungen ausgesetzt, während der Verhöre physisch misshandelt, durch Schlafentzug gequält und psychologisch bedroht und unter Druck gesetzt, mehrheitlich durch Androhungen von Inhaftierung weiterer Familienmitglieder.

Am selben Tag erreichte mich eine Gruppennachricht über WhatsApp, in welcher grausame Details der angeblichen Folterungen der Verdächtigen beschrieben wurden. Einer der betreffenden Jugendlichen soll, so besagte die Nachricht, einen Selbstmordversuch unternommen haben und befinde sich jetzt in psychiatrischer Behandlung des  Gefängnisarztes; ein anderer solle durch Schläge und weitere physische Misshandlungen an Gliedmaßen gequält worden sein und würde von den Beamten des Mordes an der Familie Dawabshe beschuldigt, obwohl er, so die Behauptung, keinen Bezug zur Anklage habe.

Ich beschloss, die Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt entsprechend der mir zur Verfügung stehenden Mittel zu überprüfen, und untersuchte einige der letzten Berichte über die Affäre – so im israelischen Wochenmagazin „Makor Rishon“, sah mir Videos und Statements der Organisation „Honenu“ und die Berichte zum Thema auf Channel 7 und bei der Onlinezeitung NRG an.

⇒ Im Video, welches am 20.12. bei „Honenu“ veröffentlicht worden war, offenbarten vier Anwälte, darunter auch der in der Siedlerbewegung bekannte politische Aktivist und Anwalt Itamar Ben Gvir,  vor den anwesenden Journalisten Details bezüglich des Misshandlungsverdachtes:

Rechtsabwälte Itamar Ben Gvir (links), Adi Keidar (2 v.l.) und weitere. Quelle: Honenu
Rechtsabwälte Itamar Ben Gvir (links), Adi Keidar (2 v.l.) und weitere. Quelle: Honenu

Rechtsanwalt Adi Keidar berichtete beispielsweise über ein Treffen mit seinem Mandanten, einem Minderjährigen, zu welchem er 21 Tage keinen Zugang hatte. Dem Rechtsanwalt zufolge traf er seinen Mandanten in einem psychisch schweren Zustand an. Über die Misshandlungen, welcher dieser Jugendliche während der letzten 21 Tage erfahren habe, berichtete der Anwalt Folgendes: An einem der Tage, an welchem er zuvor nach tagelangem Schlafentzug verhört wurde, wurde er, mit Handschellen an Beinen und Armen am Stuhl gefesselt, von Ermittlern und höheren Offizieren des Shin Bet mehrfach in seine Weichteile getreten und geschlagen, ohne die Möglichkeit, sich gegen die Attacken zu verteidigen. Anschließend wurde er, noch immer gefesselt, in eine Position versetzt, bei welcher er nach einiger Zeit das Gefühl für einen Teil seiner Gliedmaßen verloren habe. Ab einem bestimmten Zeitpunkt begann der Jugendliche zu schreien, zu betteln und, so Keidar, „seinen Verstand zu verlieren“.

Über einen weiteren Verdächtigen wusste Rechtsanwalt Keidar zu berichten, dass laut seinen Aussagen vor einem internen Gericht er während einer Verhörsitzung durch die Ermittler misshandelt wurde, als dieser nach dreitägigem Schlafentzug in der Befragung einschlief. Die Beamten hatten, so Keidar, dem Jugendlichen der Kopf nach hinten gebogen, bis dieser starke Schmerzen erlitt und sich übergab. Trotz der Anweisung des Gefängnisarztes, ihm eine Ruheperiode vor der nächsten Verhörsitzung zu ermöglichen, wurde er nach der medizinischen Untersuchung erneut zum Verhör geführt und geschlagen.

Rechtsanwalt Itamar Ben Gvir äußerte sich zum Fall:

„Zum jetzigen Zeitpunkt hat der Staat keine hinreichenden Beweise, welche genügend Licht auf die Duma-Mordaffäre werden könnten. Dies kann sich in den nächsten Tagen ändern. Was die Anklage betrifft, so lässt sich momentan nur eine Anklage auf Sachbeschädigung formulieren.“

Außerdem sagte er, „bis zu dieser Untersuchung konnte sich der Staat Israel seiner Demokratie rühmen. Als vor einigen Monaten ein abscheulicher Terrorist in Pizgat Ze’ev (Jerusalem) mit einem Messer in der Hand auf Passanten einstach, ordnete der Premierminister höchstpersönlich an, man solle ihn im Krankenhaus vor der Öffentlichkeit zeigen, seinen Zustand offenlegen und ihn ebenso mit einer guten Mahlzeit versorgen, um zu zeigen, dass in Israel Demokratie herrsche. Nach dem vorliegenden Ermittlungsfall steht fest, es gibt keine Demokratie in Israel. Heute ist ein schwarzer Tag für die israelische Demokratie.“

Ben Gvir forderte die Haftrichter und die Öffentlichkeit auf, die Vorgehensweise der Shin Bet-Ermittler zu unterbinden,  da seiner Ansicht nach eine Grenze überschritten worden war.

Dazu muss man sagen, dass nicht nur die Anwälte der in manchen (vor allem linksgerichteten) Kreisen der israelischen Gesellschaft umstrittenen Organisation „Honenu“ auf diese Berichte eingingen, sondern auch beispielsweise die Bürgerrechtsorganisation „Vereinigung für Bürgerrechte/ACRI, welche sich u.a. verstärkt für die arabische Minderheit, Frauen und Flüchtlinge einsetzt und eher weniger für die Verteidigung der „Hügeljugend“ und der Siedlerbewegung bekannt ist. Das Besondere dabei ist, dass sich ACRI in ihrem Statement auf eine interne Untersuchung der linksgerichteten, propalästinensischen Organisation „Btselem“ stützte.

Channel 7 zitierte das Feedback von ACRI:

„Der Bericht der Verteidiger der Verdächtigen im Fall der Terrorattacke auf das Dorf Duma über ihren Verhör durch den Shin Bet erweckt den Verdacht, dass dabei widerrechtliche Verhörmethoden angewandt worden sind. Diese Verhörmethoden wurden durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs als illegal befunden, und das nach Anträgen durch den Verein gegen Folter und dem Zentrum zum Schutz des Individuums, welche sich u.a. auf Untersuchungen der Organisation „Btselem“ beriefen. Wir rufen die Verantwortlichen im Justizministerium dazu auf, die Beschwerden der betreffenden Personen unverzüglich zu  untersuchen.“

Am Abend nach der besagten Konferenz fand eine spärliche Demonstration von Verwandten der Verdächtigen vor dem Haus des Shin Bet-Leiters in Jerusalem statt (Link hier). Die Demonstranten standen mit Plakaten auf einer Straßenseite und riefen „Keine Beweise, dafür aber Folter“.



Einige ausführliche Einblicke in die Diskussion um die Affäre vermittelten zwei Parallelartikel zu dem Thema, aus welchen ich einige Auszüge anführen möchte, für Interessierte.

Noch vor der Wendung der Ereignisse veröffentlichte das Magazin „Makor Rishon“ am 18.12.15 zwei Artikel zum Thema; das eine ein exklusives Interview mit der Mutter eines der Minderjährigen, das zweite mit dem stellvertretenden Rechtsberater der Regierung, Anwalt Raz Nazri.

Die Mutter hatte laut ihrer Aussage ihren minderjährigen Sohn, welcher vor etwa drei Wochen vom Inlandgeheimdienst verhaftet worden war, 21 Tage nicht gesehen und keinen Kontakt zu ihm gehabt. Da die Veröffentlichung jeglicher Details zur Untersuchung selbst sowie jegliche Andeutung auf die Identität der Verdächtigten oder ihrer nahen Verwandten strikt untersagt worden war, hielt sie sich lange Zeit zurück und ging erst dann an die Öffentlichkeit (auch das, ohne ihre Identität preiszugeben), als sie spürte, dass ihr Sohn möglicherweise in Lebensgefahr sei.

„Das erste Mal, als ich erfahren habe, was als Anschuldigung gegen meinen Sohn vorliegt, war in den Medien, als von ‚dramatischen Entwicklungen im Fall des Mordes, der schon einige Monate das Land in Atem hält‘ die Rede war. Dann wussten schon alle, dass es um Duma ging. (…) Wir haben keine Informationen bekommen. Wir, die Familie, und auch die Anwälte, hörten davon aus den Nachrichten und nicht von einem Richter. (…) Ich fühle mich, als seien wir in einem schlechten Film aufgewacht. Du wachst in einer Realität auf, in der du in einem Augenblick von einem normativen Bürger zum Staatsfeind geworden bist.“

Die Mutter erklärte im Interview, sie fürchte sich davor, dass ihrem Sohn etwas angehängt werden würde. Ihre Hauptsorge, so die Frau, gelte aber dem gesundheitlichen Zustands ihres Sohnes, dem psychischen als auch dem  physischen. „Ich weiß nicht, wer diese Bedingungen aushalten kann. Ich weiß nicht, was für einen Sohn ich zurückbekommen werde.“ Laut einem der  Berichte soll ein Jugendlicher versucht haben, sich das Leben zu nehmen.

Hügeljugend. Illustration. Quelle: The Marker
Hügeljugend. Illustration. Quelle: The Marker

Ihren Sohn beschreibt die Mutter als einen Jugendlichen, der seine ideologischen Ziele im Blickfeld hatte, ohne aber seine familiären Pflichten zu vergessen. Die Schule habe er abgebrochen, „es gibt viele, die das israelische Schulsystem nicht aushalten„. Offenbar hatte sich ihr Sohn der „Hügeljugend“, einer jugendlichen, religiös und ideologisch motivierten, anarchistisch veranlagten Gruppierung, angeschlossen und lebte in provisorischen Vorposten auf den Hügeln innerhalb Judäa und Samaria.

"Hügeljugend" bei einer Demonstration. Illustration. Quelle: Danieloz.Wordpress.Com
„Hügeljugend“ bei einer Demonstration. Illustration. Quelle: Danieloz.Wordpress.Com

„Es gab zwischen uns keine Distanz und keinen Kontaktabbruch. Er ist in einem liebevollen Haus aufgewachsen und konnte sie auch zurückgeben. Er wusste, dass ich nicht einverstanden war mit allem, was er sagte, und ich wusste, dass er nicht mit allem einverstanden war, was ich sagte.“

Würde man sie darüber informieren, dass ihr Sohn irgendeine Rolle beim Mord in Duma gespielt habe, würde sie es nicht glauben – jetzt erst recht nicht mehr. „Wir sind treue Bürger, wir glauben an den Staat, aber nichtsdestotrotz fällt es uns sehr, sehr schwer im Angesicht dessen, wie die Menschenrechte hier mit Füßen getreten werden. Wir haben absolut kein Vertrauen in die Untersuchungsabteilung des Shin Bet.

Das Parallelinterview von Anwalt Raz Nazri stellte eine etwas andere Perspektive dar. Seit 2011 im Amt, entstammt Nazri ebenso der religiös-zionistischen Gesellschaft und lernte als Jugendlicher in den mit ihr assoziierten Einrichtungen. Den Kampf gegen den angehenden Terror nimmt er sehr ernst und sieht seine Bekämpfung als oberste Priorität – im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten. Die Behauptungen, die Verdächtigen würden in ihrer Haftzeit in den Rechten der religiösen Ausübung eingeschränkt werden, wies er entschieden von sich (wie erwähnt, fand das Interview vor der Pressekonferenz statt, auf welcher Details zu möglichen Misshandlungen während der Verhörzeit vorgestellt worden waren). „Terror ist Terror„, sagte er im Interview, „es wird kein Antiterrorgesetz für Araber und eins für Juden geben, dieselbe Vorgehensweise wird wie bei arabischem, so auch bei jüdischem Terror angewandt. Der Duma-Vorfall ist ein schwerwiegender Sonderfall. (…) Was ich dazu sagen kann, ist, dass es sich um schwerwiegende Anklagen handelt, daher wurde auch Gebrauch von Ausnahmeregelungen für solche Fälle gemacht.“

Weshalb wird aber der Anschlag in Duma als ein Terrorakt und nicht als ein reguläres Mordverbrechen gesehen? Ist jeder Mord als

Hügeljugend. Illustration. Quelle: INN
Hügeljugend. Illustration. Quelle: INN

Terror zu werten? „Es gibt im israelischen und internationalen Gesetz Definitionen für Terror. Wenn die Tat aus ideologischen, religiösen, nationalistischen oder rassistischen Beweggründen ausgeführt wurde, um dadurch öffentliche Organe zu bestimmten Handlungen zu zwingen, dann ist es Terror. Und genau das ist die Definition für die radikale Gruppe, die versucht, Einfluss auf die Handlungen der Regierung zu nehmen durch Terrorakte gegen die arabische Bevölkerung.“ Trotz dieser Aussagen wollte Nazri keineswegs die um ein Vielfaches größeren und mörderischeren Ausmaße des arabischen Terrors relativieren. Außerdem sprach er sich unter den gegebenen Bedingungen der anhaltenden Terrorbedrohung für die Anwendung der umstrittenen Administrativhaft bei Personen aus, die die Öffentlichkeit gefährden könnten: „Ich bin für Menschenrechte (bezogen auf inhaftierte Terrorverdächtige, Anm.DS), aber wir haben nicht das Privileg, nur diese zu betrachten. Auch das Recht auf Leben ist ein Menschenrecht, und dieses haben wir zu schützen.

Hügeljugend. Illustration. Quelle: NRG
Hügeljugend. Illustration. Quelle: NRG

Während für Nazri die Vorgehensweise der offiziellen Organe unter den gegebenen Umständen als gerechtfertigt gilt, deutete die Mutter des festgenommenen Minderjährigen auf einen anderen Aspekt hin. Der Minister für innere Sicherheit hatte sich zum Thema geäußert, „Wir setzen alles daran, dass es Beweismittel geben wird.“Das ist eine gefährliche Aussage“, konterte sie, „sie gibt der Untersuchungsabteilung grünes Licht, alles zu machen, was man wolle.

„Man muss jedes Graffiti, jedes Verbrechen aufklären, aber mit den regulären Mitteln, die dazu zur Verfügung stehen. Der Polizei und dem Shin Bet wurde hier die Legitimation gegeben, das zu tun, was ihnen gefällt. Es wurde eine Auffassung kreiert, nach welcher die Untersuchungsabteilung nach bestem Wissen und Gewissen wüten konnte. Die Rechtsorgane und das politische Regime (…) stehen momentan mit dem Rücken zur Wand und das kann zu einer Katastrophe führen. Es ist eindeutig, dass sie nicht mit einem Mal aufstehen und behaupten würden, ‚wir haben uns geirrt, wir haben in die falsche Richtung ermittelt.‘ Denn wenn aus den Ermittlungen hier nichts wird, werden viele Rede und Antwort stehen müssen. Und dem gegenüber gibt es einige unpopuläre Jugendliche, welche schon genügend Delegitimation erfahren haben und die man schon als ‚wildes Pack‘ abgeschrieben hat. (…) Sie sind kein ‚wildes Pack‘. Aber wer wird aufstehen und ihren Schrei hören lassen, wer wird aufstehen und sagen, dass hier ein Fehler auf nationaler Ebene begangen wird und es Unschuldige gibt, die den Preis dafür zahlen?“

„Wir leben in einer Zeit voller sicherheitsbezogener Herausforderungen, voller Hasspropaganda“, äußerte sich Anwalt Nazri,  „und in dieser Zeit muss auch ein Akt, der unter normalen Umständen nicht so betrachtet werden würde, schwerwiegender aufgefasst werden, da er einen großen Brand anzetteln kann“. Daher sind seines Erachtens außergewöhnliche Schritte zur Vermeidung der Gefährdung der Öffentlichkeit notwendig.

Die Knessetabgeordnete Zehava Gal-On sagte mir einmal, ‚es gibt 500 administrativ festgehaltene Palästinenser, wo sind da die Proportionen (gegenüber den jüdischen Inhaftierten, Anm.DS)?‘ Ich sagte ihr, ‚was soll man machen, wenn der Umfang des arabischen Terrors den des jüdischen um ein Vielfaches übersteigt?‘ Ich suche keine Gleichstellung, es muss hierbei auch keine sein. Der Fakt, dass dasselbe Gesetz bei Juden und Arabern angewendet wird, ist Gleichstellung genug.“

„Ich suche keine mediale Aufmerksamkeit und bin keine Frau des zivilen Aufstandes, aber auch nachdem diese Affäre ihr Ende finden wird, werde ich den Kampf nicht ruhen lassen„, erklärte die Mutter des Verdächtigen. „Ich kämpfe nicht nur für meinen Sohn und die anderen, sondern ich kämpfe für das ganze jüdische Volk. Wir können es uns nicht erlauben, dass das, was momentan passiert, sich in Zukunft in einem jüdischen und demokratischen Staat wiederholt. Diese Ungerechtigkeit muss aufhören.“

Hügeljugend. Illustration. Quelle: Omer Messinger/FLASH90
Hügeljugend. Illustration. Quelle: Omer Messinger/FLASH90