Aufruf zum Gebet in Gush Etzion

Sonntag früh (02.08.15)  erreichte die Posteingänge der meisten Bewohner des Gush Etzion-Blocks eine Mail mit dem Aufruf zu einer Solidaritätskundgebung. Die Kundgebung sollte schon am Abend des selben Tages stattfinden. Der Text an die Bewohner besagte Folgendes:

„Aufruf zum Gebet und Aufschrei

Alle Einwohner von Gush Etzion und der Hevron-Gegend sind eingeladen zur Kundgebung des Gebetes und des Aufschreis.

Wir sind erschüttert und voller Schmerz über den gemeinen Mord, der im Namen unseres Volkes am letzten Freitagmorgen begangen worden ist. Aus dem Gefühl der Verpflichtung heraus, unseren Protest gegen diesen verbrecherischen Mord  im Dorf Duma herauszuschreien, und im Angesicht der gewaltigen Schändung des Gottesnamens, drängen wir dazu, gemeinsam aufzustehen und mit lauter Stimme zu rufen, „Entferne das reine Blut aus Deiner Mitte“ (5.Buch Moses, 21, 9). Wir werden gemeinsam für die Genesung der Verletzten der Familie Dawabshe beten.“

Als Versammlungsort war die zentrale Gush-Kreuzung angegeben, Uhrzeit 18:00 Ortszeit, und es wurde gebeten, Psalmenbücher mitzunehmen.

Wer waren die Organisatoren dieser Kundgebung? 

roots2Es handelt sich um die Mitglieder und Aktivisten des Vereines „Shorashim-Roots-Judur“ (zu Deutsch: Wurzeln), eines Verbandes aus israelischen und palästinensischen Freiwilligen, aber nicht etwa eine der vielen Organisationen im Namen des Friedensstiftens im Nahen Osten, deren Namen man im In- und Ausland nur zu gut kennt. Dies ist ein Verband/eine Bewegung, welche sich speziell an jüdische Siedler und ihre arabischen Nachbarn in Judäa und Samaria richtet. Die Initiative ist vor etwas mehr als einem Jahr auf der Basis der Ideen des Rabbiners Menachem Froman (hier zum Nachruf auf Rabbi Froman von Ulrich Sahm) aus der Siedlung Teko’a entstanden. „Shorashim/Judur“ gründet auf dem Verständnis, dass die Juden und die Araber/Palästinenser gerade in Judäa und Samaria viele Gemeinsamkeiten teilen, und durch gegenseitige Annäherung und Vertrauensaufbau eine Basis für einen authentischen Frieden bilden können – im Gegenteil zu den misslungenen Friedensbemühungen auf politischer Ebene. Jüdische Siedler und ihre arabischen Nachbarn haben, so das Leitmotiv der Organisation, eine tatsächliche und praktische Chance, durch Zusammenarbeit positive und dauerhafte nachbarschaftliche Beziehungen aufzubauen, Verurteile dagegen abzubauen und ein friedvolles Nebeneinander zu entwickeln.

Von links nach rechts: Ali Abu Awwad, Rav Hanan Schlesinger, Shaul Judelman. Quelle: friendsofroots.net
Von links nach rechts:
Ali Abu Awwad, Rav Hanan Schlesinger, Shaul Judelman.
Quelle: friendsofroots.net

Der Verein wird zur Zeit von Rabbi Hanan Schlesinger, einem amerikanisch-israelischen Rabbiner aus Alon Shevut, dem Friedensaktivisten (und ehemaligen Fatah-Mitglied) Ali Abu Awwad  und dem Aktivisten Shaul Judelman aus dem benachbarten Efrat geleitet. Zu den weiteren zählen sich Geistliche wie Rabbiner aus den lokalen Lernschulen der Siedlungen, der Sheich Ibrahim Abu al-Hawa und Bewohner einiger arabischer Städte und jüdischer Siedlungen.

Die Organisation, die sich als Bewegung verstanden haben will, hat ihren Sitz in Gush Etzion und organisiert Gespräche und Treffen auf lokaler Ebene, ebenso kleinere Aktivitäten für jüdische und arabische Kinder. Die letzte Aktivität war ein gemeinsames Fastenbrechen von Juden und Arabern, welches schon das zweite Mal  in diesem Rahmen durchgeführt wird – während des jüdischen Fastentages 17.Tammuz und des Ramadan-Monats der Muslime.

Die Idee einer zentralen Kundgebung – das erste größere öffentliche Event dieser Art seitens „Shorashim/Judur“ – kam schon am Freitagnachmittag nach dem Attentat auf die Familie Dawabshe auf und wurde in der Mailingliste und auf Facebook exzessiv diskutiert. Die Schwierigkeit lag bei der Verfassung eines Aufrufs, welcher das Kollektiv von Gush Etzion ansprechen und zu einer Teilnahme bewegen könnte, ohne die üblichen Klischees, Ausdrucksweisen und politische Einstellungen zu bedienen, welche in den Massenkundgebungen in Tel Aviv und Jerusalem  in den letzten Tagen vorherrschten. Bei der Kundgebung sollten sowohl Araber als auch Juden anwesend sein, Rabbiner und Journalisten, Personen öffentlichen Lebens. Die Kurzfristigkeit der Aktion ließ keine große Bekanntmachung zu. Die Information wurde über Mailinglisten und private Nachrichten verbreitet, die Kundgebung bei Polizei und Armee angemeldet.

wpid-20150802_180624.jpgAn Ort und Stelle erschienen im Verlauf des Abends mehr als 200 Personen (Times of Israel sprach sogar von 300), davon eine beträchtliche Anzahl an Journalisten: Reuters, CNN, AFP, Walla News, Jerusalem Post, i24 waren präsent, um nur einige zu nennen. Unter den Anwesenden befanden sich zahlreiche junge Leute, die meisten von ihnen religiös. Einen Teil davon machen Aktivisten der „Shorashim/Judur“-Initiative aus, ebenso interessierte Passanten und solche, die sich zeitig über die Veranstaltung informiert hatten.

Begonnen wurde die Kundgebung mit emotionalen Ansprachen. „Wir sind für einen Aufschrei hierhergekommen. Wir sind aber auch gläubige Menschen. Wir beten. Und wir sind auch Optimisten, wir lassen uns durch Verzweiflung und Zorn unseren Glauben nicht zerstören“, begann der Veranstaltungsleiter Rabbiner Sarel Rosenblatt. „Im Angesicht der Zerstörung und der Bosheit wollen wir der Welt Gerechtigkeit und Liebe hinzufügen.“

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Links nach rechts: Rav Yaakov Katz, Rav Dov Singer, Rav Yaakov Nagen, Rav Yaakov Madan, Yair Lapid

„Der Frieden wird nicht von den Politikern herrühren, sondern er kommt von unten, von den Menschen vor Ort, die tagtäglich Schulter an Schulter zusammenarbeiten. Hier vor Ort gibt es Coexistenz“, Rabbiner Ya’akov Madan, Leiter des Yeshiva-Gymnasiums in Alon Shvut und nationalreligiöser Lehrer und wpid-20150802_182136.jpgGeistlicher, ergriff das Wort. „Unser Festhalten an diesem Land hat drei Ursprünge, auf welche es sich beruht. Der erste – ist Gott und seine Vorsehung. Ich kann nicht glauben, dass Gott eine Legitimierung für den Mord am Kleinkind geben könnte. Der zweite – der gute Wille des jüdischen Volkes und der israelischen Regierung, welche hier verbleiben möchten.  – Diese Tat entwurzelt das Volk von hier. Und der dritte Ursprung – unsere Standhaftigkeit hier. Eine Standhaftigkeit, die auf den Werten der Reinheit, der Stärke, des Gewissens, der Wahrheit beruht.“

Während seiner Rede erschien in der Menge der Scheich Ibrahim Abu al-Hawa, bekannt für seine Aktivitäten im interreligiösen Dialog in der Gegend. Die Presse stürzte sich auf den alten Mann, der einige der Initiatoren der Kundgebung herzlich umarmte.wpid-20150802_182636.jpgwpid-20150802_182651.jpg„Jeder von uns kennt jemanden, der jemanden kennt, dem jemand bekannt ist, der vielleicht mit dieser Tat etwas zu tun haben könnte. Auf uns liegt die Pflicht, solche Sachen an die Sicherheitskräfte weiterzuleiten! Und wenn wir davon wissen, dass eine ähnliche Tat bevorsteht, und wenn es keinen anderen Weg gibt, diese zu verhindern, so müssen wir auch das melden!“, rief Rabbiner Madan mit lauter Stimme und fügte anschließend hinzu: „Man muss den Unterschied kennen. Bei uns sind es die Randgruppen der Randgruppen, die so etwas tun können, und welche wir verurteilen. Bei der anderen Seite werden die Terrorakte im Namen des ganzen Volkes verübt, und bei ihnen werden die Terroristen zu Helden. Wir werden niemals auf dieser Ebene stehen.“

„Als Siedler, der an unser Recht auf dieses Land glaubt, als Israeli, der die strategische Wichtigkeit dieser Gegend für die Sicherheit des Staates sieht, sage ich – der Mord an einem Baby wird unserem Volk keine Erlösung bringen. ‚Zion wird mit Gesetz erlöst und Jerusalem mit Gerechtigkeit‘ (Jesaja 1, 27). Ein jeder, der uns nichts zuleide tun wollte, verdient unseren Schutz.“ So wandte sich der Rabbiner und Vorsteher der Religionsschule in Otni’el, südlich von Hevron, Rabbiner Benny Kalmanson, an das Publikum. „Wir haben wunderbare nachbarschaftliche Verhältnisse. Wir könnten zusammen den Gush Etzion  zu einem Beispielort für alle machen.“

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Rebbetzin Hadassah Froman am Mikrofon

Zugegen war auch der ehemalige Finanzminister Yair Lapid, der ausnahmsweise mit einer Kippa auf dem Kopf aus der Tora zu zitieren beschloss, um sein religiöses Publikum besser anzusprechen. Hadassah Froman, die Witwe des „Friedensrabbis“ aus Teko’a, wurde mehrfach von der Presse interviewt. Vor den Versammelten erinnerte sie mit schmerzerfüllter Stimme daran, dass das letzte Mal ein solches Zusammenfinden im Sommer 2014 stattgefunden hatte, zur Zeit der Entführung der 3 Jugendlichen durch Terroristen. Dieser folgte die Verbrennung des arabischen Teenagers aus Jerusalem. „Wie kommt es dazu, dass erneut ein Kind verbrannt wird?!“

Wie es bei interreligiösen Treffen üblich ist, wurden als Teil des gemeinsames Gebetes Psalmen aufgesagt – so der Psalm 130, 127 und 133, und es wurde ein gemeinsames Gebet für die Gesundheit der Verwundeten gebetet – die Familie Dawabshe, aber auch die letzten Opfer eines Autoanschlags an der Kreuzung von Alon Shevut vor einigen Monaten. Die Anwesenden wiederholten die Psalmen gemeinsam mit den Vorbetern.

Hier kann man sich einen kurzen Eindruck von der Kundgebung machen: Gemeinsames Psalmenlesen und Beten für Genesung;

Die Anwesenden warteten gespannt, wann würde ein arabischer Teilnehmer sich äußern? Tatsächlich waren unter den Versammelten kaum Palästinenser zu erkennen – außer selbstverständlich des 73-jährigen Scheichs, welcher vor dem

Scheich Ibrahim abu al Hawa
Scheich Ibrahim abu al Hawa

Publikum eine flammende Rede in Arabisch hielt (mein Arabisch war leider nicht gut genug, um alles zu verstehen). „In diesem Land sollte man 4 Sprachen sprechen – Hebräisch, Arabisch, Russisch und Englisch“, witzelte der Scheich und fasste seine Rede dann in gebrochenem Englisch zusammen: „Ich bin kein Bürger von keinem Staat. Ich bin Palästinenser, ich gehöre hierher. Aber dieses Land gehört nicht den Juden und niemand anderem. Dieses Land gehört Gott“ und „Wir sind alle Gäste in diesem Land. Wir müssen zusammenleben. Mein Haus ist immer offen für alle“, und sagte auch, „ich möchte meine Gefühle mit den Müttern teilen, die als Einzige wirklich verstehen, was Babies bedeuten.“ Der Scheich erhielt den lautesten Applaus von allen Rednern.

Zum Abschluss gab Rabbiner Schlesinger bekannt, dass ein Fonds zur Unterstützung der geschädigten Familie Dawabshe eröffnet wurde. „Diese Versammlung von ‚Shorashim‘ ist das Mindeste, das wir tun können“, stellte er fest. Er las aus einem Brief seines arabischen Partners vor, Ali Abu Awwad, der nicht zur Veranstaltung kommen konnte: „Diese Kundgebung gibt uns Palästinensern Hoffnung und wird ein Beispiel für jeden darstellen, der ein Friedenspartner sein will. (…) Vor allem ist die moralische und die religiöse Aussage hinter der Kundgebung wichtig.“ Ein weiterer Redner wurde konkreter: „Wenn keine Taten folgen, ist es schade um das ganze Gerede. Wir wissen, dass es Rabbiner und wpid-20150802_184139.jpgAnführer gibt, die diese radikalen Ideologien unterstützen. Solange sie nicht dagegen sprechen, müssen wir sie aus unserer Mitte verbannen!“

Der letzte schließlich war ein arabischer Aktivist, Ziad Sabateen, der sich lange Zeit nicht traute, vorzutreten. Offenbar war er kein Fan großer Reden.  „Diese Kundgebung hätte in Duma stattfinden sollen“, sagte er, „ich selbst wurde zu einer anderen Kundgebung eingeladen, aber meine Nachbarn waren mir wichtig, also bin ich hier. Die Mütter sind diejenigen, die den Kindern als erste Essen geben, und sie auch erziehen. Wir müssen unsere Mütter schützen.“ Er wünschte sich auch eine ebenso strenge Behandlung der israelischen Täter wie die gegenüber den palästinensischen.

Nach der Kundgebung löste sich die Versammlung schnell auf, Menschen unterhielten sich noch, andere gingen im Supermarkt „Rami Levy“ nebenan einkaufen – ein bekanntes „Symbol der Koexistenz“ für sich.

Was meine allgemeine Skepsis für öffentliche Kundgebungen dieser Art angeht, so muss ich zugeben, dass diese Veranstaltung eindeutig einen weitaus mehr authentischen und respektvolleren Charakter besaß als alle ihr vorangegangenen seit dem letzten Freitag. Bleibt nur zu hoffen, dass alle Redner auch ehrlich und aufrichtig in dem gewesen sind, was sie den Anwesenden mitzuteilen hatten.



 

Mehr zu Shorashim-Judur-Roots: hier geht’s zur Homepage

In Zukunft werde ich mehr über diese Organisation berichten. Bleibt dran!

3 Kommentare zu „Aufruf zum Gebet in Gush Etzion“

  1. Hallo Chaya,

    Wir kommen aus unterschiedlichen konzeptionellen Universen, Du aus der Siedlerbewegung, ich aus dem deutschen Mainstream. Daher weiß ich nicht, ob es uns etwas bringt, wenn ich mich auf Deinem Blog zu Wort melde. Vielfach werden wir uns nur darauf einigen können, dass wir uns nicht einigen können. Wenn uns das gelingt, dann haben wir schon mehr erreicht als viele andere. Wir werden sehen.

    Deinen Betrag zu “Shorashim-Roots-Judur” fand ich bemerkenswert. Es gibt Hoffnung zu sehen, dass Menschen im Kleinen an friedlicher Koexistenz in einer polarisierten Umgebung arbeiten.

    Andererseits verstehe ich das Ziel des Siedlungsprojektes nicht, speziell den Sinn der Siedlungen und Outposts jenseits des Sicherheitszaunes. Für mich sieht es so aus, als ob „Ihr“ Israel um jeden Preis zu einem binationalen Staat entwickeln wollt.

    Dadurch schafft Ihr zwar eine „neue Realität“, aber ich begreife beim besten Willen nicht, wieso eine binationale Zukunft für die Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Meer besser sein soll, als ein jüdischer und ein palästinensischer Nationalstaat.

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