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Unterwegs nach Ariel mit Fauzi

Neulich (08.06.16)  musste ich für ein Interview, das ich durchzuführen hatte, aus der Bar-Ilan-Universität nahe Ramat Gan/Tel Aviv in die Universitätsstadt Ariel im Herzen von Samaria fahren. Ariel ist eine Stadt mit etwa 18.000 Einwohnern, eine der vier großen Städte in Judäa und Samaria, besitzt als einzige von Ariel auf der Karteihnen eine Universität, die staatlich anerkannt ist, ist industriell und bildungstechnisch gut entwickelt, besitzt ein entspanntes Klima, eine Aussicht bis Ariel, 2013 (Quelle: Wikipedia)zum Mittelmeer und liegt an den zentralen Verbindungsstraßen zwischen Bergland und Küste, was diese Stadt zu einem attraktiven Wohnort macht. Die Bewohner von Ariel sind zum Großteil säkular und arbeiten innerhalb der Stadt bzw. vielfach im Küstenbereich – Tel Aviv und Umgebung.

Ich war bisher nur zweimal in Ariel, kein einziges Mal zuvor bin ich selbstständig angereist. Ich musste mich über Whatsapp mit einigen Freunden beraten, wie ich aus dem Zentrum überhaupt dorthin käme. Mir wurde schnell geholfen, was allerdings eine schnelle Busankunft nicht garantierte. Bis ich zur richtigen Haltestelle fand, verpasste ich ganze drei Busse, und danach ließen sich diese lange auf sich warten.

Und ich wartete, in brütender Hitze des Juni-Nachmittages, und mit mir an der Haltestelle warteten noch einige weitere Menschen. Fast alle waren dem Aussehen nach Araber, aus „den Gebieten“. Was aber machen Araber „aus den Gebieten“ mitten im Land auf einer Haltestelle? Ach, natürlich. Sie fahren heim. Die Strecke zwischen Küstenebene/Tel Aviv und Umgebung und Ariel wird tagtäglich von hunderten von arabischen Arbeitern aus Samaria befahren, welche eine Arbeitserlaubnis im Kernland Israels haben. Die Busse nach Ariel sind ihre einzige Transportmöglichkeit, von den Sicherheitsübergängen an der „Grünen Linie“ ins Land und an ihre Arbeitsstelle zu gelangen. Mit den Bussen fahren sie zu bestimmten Kreuzungen, schon im Samaria-Gebiet, und gelangen dann weiter über innerpalästinensische Transportmittel – meist Sammeltaxis – in ihre Dörfer. Manche davon liegen weit entfernt, andere nah an der Haltestelle.

Ich erinnerte mich, über dieses Thema einmal geschrieben zu haben – im Eintrag Der Bus-Skandal im Mai 2015, da wurde in den deutschen Medien über eine Entscheidung des Verteidigungsministeriums berichtet, welche am Tag ihrer Öffentlichmachung aufgehoben worden war – und zwar, die Transportmittel der israelischen Fahrgäste und der palästinensischen Arbeiter aus Sicherheitsgründen zu trennen. Jetzt hatte ich die Gelegenheit, selbst mitzuerleben, wie eine solche Fahrt von Israelis und palästinensischen Arabern in einem gemeinsamen Bus aussieht.

20160608_162730Zur Haltestelle gelangte ich mit einem Araber, er hatte gesehen, wie ich den Bus verpasst hatte. Wir warteten gemeinsam, wechselten einige wenige Worte und Gesten, ärgerten uns in schweigsamer Eintracht über den verpassten Bus. Es war heiß, ich bot ihm etwas zu trinken an. Er lehnte dankend ab und ich fasste mir an den Kopf – der Fastenmonat Ramadan hatte begonnen, wie ungeschickt von mir!

Nach einer scheinbar ewig langen Zeit kam ein Bus angefahren, der schon vollgepfercht war. Ein weiterer hielt nicht an, und so zwängten wir uns mit noch weiteren Wartenden in den Gang. Selbst die Stehplätze waren knapp. Der Bus war etwa zur Hälfte mit arabischen Arbeitern besetzt, die meisten sehr ermüdet, einige schlafend. Wir standen im Gang, der Bus bewegte sich im Schneckentempo, es waren die Nachmittagsstaus und die Autobahn 5 nach Ariel ist da leider keine Ausnahme. Ständig gab der Busfahrer einen Ruck, wir Stehenden fielen fast 20160608_163420übereinander. Wieder das Blickewechseln, manche hoben resigniert die Augenbrauen. Ich schaute einem arabischen Fahrenden über die Schulter. Der sah sich „Streich“-Videos auf Youtube an, wie sie häufig im Netz kursieren. Vertrieb sich damit die lange Fahrt. Nonchalant wie ich bin, gesellte ich mich hinter seinem Rücken dazu und konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Ein älterer Araber neben mir kommentierte meine Beschäftigung mit einem ironischen „very funny“. Auch ihm machte der Stau zu schaffen.

Von meinem ehemaligen „Wartekollegen“ an der Haltestelle versuchte ich mit einigen Worten zu erfahren, wo er denn wohne. Er meinte nur schüchtern lächelnd, „Ariel“. Entweder sprach er kein rechtes Hebräisch, oder wollte nichts sagen. Ich kam ihm wahrscheinlich recht sonderbar vor – junge Frau, jüdisch, mit Rock (Siedlerin, was sonst?), fängt mit ihm Gespräche an.

Endlich löste sich der Verkehr, ein paar Reisende stiegen aus, Plätze wurden frei. Ich beschloss, stehen zu bleiben, aber die Männer begannen, mir Platz anzubieten. Ich lehnte wiederholt ab. Dem älteren „very funny“- Herrn, der neben mir stand, sagte ich frei heraus: Ihr habt heute gearbeitet, ich habe nichts gemacht, ihr sollt euch setzen. Der verzog leicht das Gesicht, „und das beim Fasten, den ganzen Tag nichts trinken, nichts essen“. Ich nickte verständnisvoll, wie ich es nur konnte. An unseren Fastentagen pflegen wir nicht zu arbeiten. „Hast du etwa den ganzen Tag nichts gemacht?“, fragte er zurück. „Nein, nichts“, meinte ich lachend, „ich fahre nur den ganzen Tag herum.“ Wieder ein schiefes Lachen. Der Mann wurde mir sympatisch, er sprach einwandfreies Hebräisch und schien nichts gegen Gespräche einzuwenden zu haben.

Ich nutzte die Gelegenheit natürlich, um ihn auszufragen. Wo er arbeite, was er arbeite, wo er wohne. Fauzi* (*Name geändert) arbeitete als Restaurator in der Stadt Rishon leTzion. Er erzählte mir, wie er zu seinem Dorf, Burukin, neben der Siedlung Barkan gelangte („Barkan, Buruqin, selber Name“)- bis zu einer Kreuzung auf der Autobahn 5, und dann weiter mit dem Sammeltaxi. Ja, davon

Ariel, Buruqin und dazwischen
Ariel, Buruqin und dazwischen

habe ich schon gehört. „Wieso kannst du dir kein Auto holen, um diese Strecke zu fahren?“, fragte ich und erwartete Erklärung. Diese kam, „das darf man nicht. Ohne israelischen Führerschein kann ich keine Erlaubnis für ein Auto bekommen, ein Auto der PA darf nicht nach Israel hinein.“ „Kannst du dir keinen israelischen Führerschein machen lassen?“ Ich wusste, die Fragen waren naiv, aber ich wollte Antworten von ihm in seiner Darstellung hören. Natürlich war mir klar, dass PA-Autos innerhalb Israels nicht zugelassen waren. „Nein, das kann ich nicht. Ich habe eine Arbeitserlaubnis, aber keinen blauen Ausweis (israelische Aufenthaltserlaubnis).“ Die Frage „würdest du gerne einen haben?“ lag mir auf der Zunge, aber ich unterließ sie. Vielleicht würde er sich nicht trauen, darauf zu antworten, außerdem wollte ich niemanden von etwas überzeugen, sondern Information sammeln.

Ich fragte also weiter, ob israelische Staatsbürger in seinem Dorf leben dürften. Er bejahte, es würden welche leben, das sei normal , es würden auch andere auf der anderen Seite der „Grünen Linie“ leben, sie haben eingeheiratet und dann kriegt man eine Wohnerlaubnis. Über dieses Thema gelangten wir zum Thema Heirat. So erzählte mir Fauzi, in seinem Dorf würden Muslime Jüdinnen heiraten und dann ins Dorf bringen. „Die haben dann eine israelische Staatsbürgerschaft?“ „Ja.“ „Aber dann sind sie zum Islam übergetreten, richtig?“ „Ja, natürlich.“ Ich kannte natürlich solche Fälle, aber dass das eine gängige Praxis sei, überraschte mich doch. Ich sagte ihm es auch, und dass es bei Juden nicht gerne gesehen werden würde. „Ich weiß. Sie heiraten aber nicht nach der Religion, sondern nach dem Staatsgesetz, und nach diesem ist es erlaubt“, meinte Fauzi, und fügte hinzu, „am Ende sind wir alle Menschen.“ Und dennoch, beharrte ich darauf, für Muslime sei es in Ordnung, aber für Juden nicht. Fauzi wusste das. „Dann sind die Kinder einerseits von der Mutter her jüdisch, und vom Vater her muslimisch“, dachte ich laut nach. Fauzi wusste mir daraufhin zu erzählen: „Ich kannte einmal jemanden, er kam ins Dorf, sprach mittelmäßiges Arabisch; wir unterhielten uns. Es stellte sich heraus, dass sein Vater Araber sei! Er aber wohne mit seiner Mutter in Israel. Er sagte mir, er würde seinen Vater kennen und ab und zu besuchen. Ich fragte ihn nach seiner Religion, er sagte mir daraufhin, ‚ich bin jüdisch‘.“ Fauzi erzählte auch, viele der Frauen, die ins Dorf kämen, seien russischer Herkunft. Es gäbe viele nichtjüdische Russinnen, erwiderte ich. Ob ich russisch und jüdisch sei, fragte er, und wo ich geboren sei. Er erzählte mir auch, viele würden noch immer nach Russland fahren und von dort Ehefrauen mitbringen: „Immer wieder bringen sie Frauen von dort mit.“

Ich fragte ihn schließlich nach den „Horrorgeschichten“, die bei uns viele erzählen – die schlimme Behandlung, die ehemals nichtmuslimische/jüdische Frauen von ihren arabischen Männern erfahren würden. Organisationen wie „Yad le’Achim“ in Israel spezialisieren sich auf solche „Fälle“ und berichten immer wieder von „Rettungsoperationen“, bei welchen sie diese oder jene Frau mit Kindern von einem gewalttätigen arabischen Ehemann gerettet haben. Fauzi winkte abwertend ab: „Es ist immer so, es wird ein Wort gesagt, und bis es bei der nächsten Stelle ankommt, werden daraus zehn Wörter. Ich glaube diesen Geschichten nicht. Zudem, gibt es etwa nur bei uns Gewalt, und bei den Juden nicht?“ Ich bejahte, mir kamen gleich mehrere Fälle in den Sinn.

Es ist zweifellos eine komplexe Realität. Von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet, sieht sie vollkommen anders aus; und jeder hat dennoch das Recht auf seinen Standpunkt. Der Bus fuhr währenddessen weiter; wieder ein Rucken, und wir Stehenden fielen übereinander und fingen an zu lachen. „Man versteht nicht, was dieser Fahrer hat“, erklärte mir Fauzi mit verwundertem Lachen die Reaktionen der anderen, „wo hat er seinen Führerschein gemacht? Welcher Esel hat ihm den gegeben?“ „Vielleicht ritt er vorher auf einem Esel, und dann hat er beschlossen, das Transportmittel zu wechseln“, entgegnete ich witzelnd. Wir schmunzelten.

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Die Menschenmenge an der Kreuzung.

Dann war der Bus an der Ariel-Kreuzung angekommen. Wir verabschiedeten uns voneinander, Fauzi und ich, und stiegen aus. Draußen – Schreie, Taxifahrer, die ihre Kundschaft anwarben, Männer in langen Gewändern zwischen Olivenheinen, und all die ausgestiegenden arabischen Arbeiter, die zu den Fahrzeugen eilten. Zwei Soldaten regelten den Verkehr an der Kreuzung. Erst im März 2016 gab es hier eine Messerattacke auf eine junge Soldatin, und im Oktober 2015 eine Messerattacke auf einen wartenden Juden. Auch zuvor hatte es hier Terrorattacken gegeben, an dieser vielbefahrenen Kreuzung, wo sich beide Bevölkerungsgruppen dicht aneinander reiben.  Ein Vorbeieilender meinte, ich würde mich nach Hilfe umschauen, doch ich winkte ab. Mein Ziel war noch immer die Universität von Ariel. Wie gewohnt, nutzte ich dafür den Autostop. Die Sonne stand hoch am Himmel, es war noch Zeit bis zum Fastenbrechen beim Sonnenuntergang. Wie die Menschen das durchlebten, wie viele sich bei diesen Bedingungen tatsächlich an die strengen Regeln des Fastens hielten, wusste ich nicht zu sagen.

Ariel-Kreuzung. Das Schild weist auf das nahegelegene "Eshel Hashomron"-Hotel hin.
Ariel-Kreuzung. Das Schild weist auf das nahegelegene „Eshel Hashomron“-Hotel hin.

Ich war dankbar für die Unterhaltung mit meinem unerwarteten Gesprächspartner, meinem Nachbarn, einem weiteren Puzzlestück in der menschlichen Landschaft von Judäa und Samaria. Unser Land ist zu klein, um zwei Staaten zu beherbergen, aber es ist nicht zu klein für Leute wie Fauzi und mich, vorausgesetzt, wir wollen hier leben und einander leben lassen. Leider ist diese simple Voraussetzung in unserer Region nicht selbstverständlich. Aber die Zukunft steht offen.

Und, ja, die Anfahrtsbedingungen für die Arbeiter sollten definitiv verbessert werden, nicht nur bei Ariel, sondern auch an den restlichen Übergängen. Es gab eine Zeit, nicht allzu lange her, da gab es noch keine Übergänge, da hätte ich sogar Fauzi in seinem Dorf besuchen können. Aber die Zeit ist fürs Erste vorbei, und außerdem ist das schon eine ganz andere Geschichte…