Einige Gedanken zum Blog

Im Zuge meines Lebens hier in Judäa, als Einwohnerin, Journalistin und Aktivistin der Siedlerbewegung, werde ich Zeugin verschiedener Entwicklungen und Vorkommnisse, manche Bestandteile des Alltags, andere neu, besorgiserregend oder vielversprechend. Ich spreche mit Menschen – einfachen Einwohnern, Aktivisten, Soldaten, Historikern, religiösen und politischen Autoritäten – und erfahre jedes Mal etwas Neues. Unter der Oberfläche des alltäglichen Lebens hier speziell in Judäa und generell in allen Siedlungen herrscht eine reiche Innenwelt, und es ist nicht, dass sie zwingend darauf wartet, mit Außenstehenden geteilt zu werden.

Es gibt alles, was sich die Fantasie erlaubt, hier in der Siedlungswelt. Über das Eine wurde viel geschrieben, über das andere wohl noch nie – zumindest im Ausland. Sozialer Aktivismus für Bedürftige? Gibt es. Drogenprobleme unter jungen Leuten? Gibt es. Behindertenwerkstatten und ADHS-Therapie für Kinder? Gibt es. Diskriminierung palästinensischer Araber? Gibt es. Koexistenz und Freundschaft? Gibt es. Es gibt steinewerfende Araber und steinewerfende Juden. Es gibt Soldaten, die arabischen Kindern Süßigkeiten und Essen schenken, und Soldaten, die von arabischen Autofahrern, die sie kontrollieren, Zigaretten verlangen. Es gibt Siedler, die verbringen einen Monat lang in Norwegien und sprechen fließend Norwegisch; in ihrer Freizeit bauen sie ihr illegales Haus. Es gibt Siedler, die spenden Altkleidung und Gesäuertes zu Pessach an arabische Bedürftige. Es gibt Araber, die riskieren für ihren Kontakt zu den Siedlern, ihre Arbeit zu verlieren, und manche haben sie schon verloren. Es gibt Juden, die es für eine Schande befinden, jemals das Land Israel zu verlassen und ins Ausland zu fahren – sei es nur für einen Ausflug. Es gibt Siedler, die veranstalten gemeinsames Fasten mit Muslimen, andere machen Führungen in arabische Dörfer, und wieder welche zünden Moscheen an oder stechen Reifen arabischer oder Armeefahrzeuge durch, und dann kommen wieder andere und bekunden Solidarität mit den Betroffenen.

Was es nicht alles gibt! Und das ist nur der Anfang. Für viele Themen bedarf es vorhergehenden Wissens, und so neu, wie ich hier bin, habe ich selbst auch noch vieles bei der Thematik Siedlungen und jüdisch-arabisches Zusammenleben, ebenso wie Aktivismus im Bereich Judäa und Samaria und außerhalb, nachzuholen und dazuzulernen. Da gilt es nicht immer, direkt mit der eigenen Nase in der Suppe zu rühren. Um etwas in Schrift zu reflektieren, muss man selbst es tief genug in sich aufnehmen und verarbeiten.

Auf der anderen Seite gibt es auch Themen, die nicht einfach angeschnitten werden können, weil ich (und andere kompetente Menschen, deren Meinungen ich sehr schätze) es nicht für angebracht halten, diese in Rohformat nach außen zu bringen. Vielleicht würden manche es Zensur nennen. Fakt ist, dass es hier im Blog sicherlich vielen an Texten und und Themen mangelt, die vorzugsweise von der Presse angeschnitten wurden und werden (in welcher Form auch immer). Ich betreibe ja eine Art „Aufklärung“, wieso mache ich diese also nicht großflächig, oder fertige eine Art Informationspool an, oder gebe unzensiert einfach alles wieder, was ich sehe und höre? Ist nicht das die Aufgabe eines Journalisten?

Mag sein. Doch meines Erachtens, und ich muss diese Einschätzung tagtäglich für mich selbst neu definieren, ist die Verantwortung eines tiefer gehenden Journalisten – der es auf Einblick und Analyse ankommen lassen will und nicht auf bloße Wiedergabe eines Informationsschwalles –  sehr groß. Ich spüre diese Verantwortung, insbesondere, wenn ich auf ein Thema treffe, über welches sich ein Bericht oder eine Analyse unglaublich lohnen – aber welches ohne nachhaltige Arbeit zuvor einfach nicht in so einer Form ansprechbar ist. Ein regulärer Journalist steht vor allem auch nicht nur unter Themen-, sondern auch unter Zeitdruck. Der Blogger hat das Privileg der freien Verfügung über Zeit und Prioritätensetzung.

Ich muss zugeben, diese fallen mir bisweilen nicht leicht. Es gibt so viel, worauf ich treffe, und was ich erklären, wiedergeben, diskutieren, kritisieren oder positiv betonen möchte. Es gibt Erwartungen, die andere an mich stellen, und auch die, die ich an mich selbst stelle, und die letzteren sind für mich ein sehr ernstzunehmender Druck und Maßstab.

In letzter Zeit wurde ich aufgrund des Blog-Projektes von verschiedenen Organisationen, Medien und Veranstaltern angeschrieben, die auf das Projekt aufmerksam geworden sind, die sich für die Thematik interessieren oder es als eine gute Idee ansehen, die Stimme der jüdischen Siedlerbewegung in ihr Angebot aufzunehmen und der Diskussion freizugeben. All das bedarf einer Vorbereitung, und auch der Entscheidung meinerseits, wie ich auf diese Anfragen reagiere, was von dem, das ich kenne und lebe, ich nach außen tragen möchte, und welchen Effekt es haben wird. Und natürlich ist sie immer auch da – die Frage nach der journalistischen Integrität, gegenüber der Frage nach eigenen oder gemeinschaftlichen Interessen.

Ich glaube fest daran, dass die Zeit der Gedeihung und Reifung des Projektes sehr förderlich sein wird, und mit der Zeit auch der Umfang und die Tiefe der Berichterstattung wachsen werden und viel mehr Menschen zugänglich sein werden. Viele Kreise werden sich schließen und Fragen ihre Antworten finden.

Alle Menschen, die hier in Judäa und Samaria leben, haben ihre eigene Stimme, ihre Geschichte und die Geschichte der Gemeinschaft, der sie entstammen, sie verdienen es, gehört zu werden – und trotz manchmal gewaltiger Unterschiede erkennt man mit einem Blick hinter die Hülle, wie sehr sich manche Gegensätze eigentlich nahe stehen. Mit der Zeit werden diese es erkennen, und das wird der Zeitpunkt für eine Symbiose sein. Das ist übrigens kurz und ungenau gefasst auch meine Sichtweise auf den jüdisch-arabischen Konflikt, aber ich denke, dass die Berichte zu dieser Thematik hier früher auftauchen werden, als dieser sich lösen lassen wird.  🙂

Mit diesen Worten, bleiben wir gespannt –  ihr, die Leser, und ich, der Schreiberling – auf das, was auf uns hier auf  DIESIEDLERIN.NET  noch zukommen wird.

Chaya

3 Kommentare zu „Einige Gedanken zum Blog“

  1. Liebe Chaya,
    darf ich Dir ein wenig Mut machen? Ich persönlich finde es hoch spannend, was Du hier berichtest. Hier in Deutschland ist die Information über Israel im Allgemeinen und Judäa im Besonderen eher einseitig. Siehe ARD. Da ist das, was Du hier an Hintergrundwissen anbietest unheimlich wertvoll. Wenn Du Dir dann auch noch Gedanken darüber machst, was Du wie „nach draußen“ vermittelst, dann ist das schon sehr verantwortungsvoller Journalismus.
    Nimm Dir die Zeit, die Du brauchst, hier zwingt Dich ja kein Redaktionsschluss. Wir werden weiter Deine engagierten und differenzierenden Berichte mit großem Interesse lesen.
    Liebe Grüße und einen schönen Tag
    Friedrich

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